Information und Analyse

Jakartas Gouverneur lässt Armenviertel platt machen

Information und Analyse, 05. Oktober 2016

 von Alex Flor

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nachlassendes Hochwasser am Ciliwung in Bukit Duri

Foto: Alex Flor

Eingezwängt auf einem schmalen Streifen Land zwischen dem Fluss Ciliwung und einem Eisenbahndepot erstreckte sich in Jatinegara, Südjakarta, das Viertel Bukit Duri. Das Viertel war von Armut geprägt. Die regelmäßigen Hochwasser des Ciliwung trafen die BewohnerInnen von Bukit Duri meist als erstes und in besonders heftigem Ausmaße. Ich erinnere mich daran, wie ich vor Jahren, als größere Teile Jakartas unter Wasser standen, einen in Bukit Duri lebenden Freund (damals noch über Festnetz) anzurufen versuchte. Zu meiner großen Verwunderung nahm er sofort ab. Denn zufällig saß er gerade auf dem Dach seines Hauses und versuchte dort Strom- und Telefonleitungen neu zu sortieren. Das Erdgeschoss stand bereits unter Wasser. Alles Hab und Gut war verloren. Nicht nur Betten, Schränke und andere materielle Güter, sondern auch Dokumente, Zeugnisse und Fotos. Mein Freund hatte zuvor viele Jahre in Berlin gelebt. Er fotografierte gern. Besonders stolz war er auf seine Aufnahmen des Berliner Karnevals der Kulturen aus dessen frühen Jahren gewesen. Die dreckige Flut des Ciliwung vernichtete seine Erinnerungsstücke.

Genau genommen war der Ciliwung schon längst einer der größten Abwasserkanäle Indonesiens und hatte mit dem Fluss gleichen Namens nur noch den einstigen Verlauf gemeinsam. Der Großraum Jakarta hatte zu dieser Zeit schon mehr als 20 Mio. EinwohnerInnen – vergleichbar mit der Gesamtbevölkerung des Nachbarstaates Australien. Oder in europäischen Größenordnungen gerechnet: mehr als die Bevölkerung der Alpenstaaten Österreich, Schweiz und Slowenien zusammengenommen. Jabodetabek steht als Abkürzung für dieses städtische Konglomerat, bestehend aus den Millionenstädten Jakarta, Depok, Tangerang und Bekasi. Im gesamten Gebiet dieser Mega-Metropole gibt es bis heute keine geordnete Kanalisation und keine über das Versuchsstadium hinausreichende Kläranlage. Wenn der Ciliwung mal wieder über seine Ufer tritt, dann ist es nicht Wasser, sondern eine ekelhafte Brühe aus Fäkalien und Industrieabwässern, welche die Wohnzimmer der AnwohnerInnen überschwemmt.

Das mangelhafte System der Müllentsorgung spielt ebenfalls eine gewichtige Rolle. Jakartas Müllabfuhr kann nur einen Teil der täglich anfallenden Abfälle entsorgen. Die Müllfahrzeuge stecken im Stau fest. Es mangelt an Entsorgungs- und Recyclingeinrichtungen. Während eines Gespräches in Bukit Duri wurde ich selbst Zeuge, wie vom Haus nebenan alte Matratzen und Müllsäcke über den Fluss entsorgt wurden. An Brückenpfeilern hängen bleibend wird der angeschwemmte Müll zu einem Stauwehr. Beim nächsten Starkregen sind die ersten Leidtragenden die BewohnerInnen der Flussufer, darunter die Leute von Bukit Duri selbst.

Wer verursacht die Hochwässer?

Diverse Administrationen der Hauptstadt Jakarta machten in der Vergangenheit die BewohnerInnen von Armenvierteln wie Bukit Duri für die regelmäßigen Überschwemmungen verantwortlich. Durch Räumung dieser Viertel, die Anlegung von Entlastungskanälen und Eingriffe in den natürlichen Verlauf der Flüsse sollte ein schnellerer Abfluss des Wassers, bzw. der Kloake, gewährleistet werden. Auch der derzeitige Gouverneur der Hauptstadt, Basuki Tjahaja Purnama, besser bekannt unter seinem Spitznamen »Ahok« hält an dieser Strategie fest. Seine Popularität als »Mann der Tat« trägt dazu bei, dass sogenannte »Slums« heute ohne größeren Widerstand seitens der Zivilgesellschaft noch schneller geräumt werden als unter seinen erzkonservativen Amtsvorgängern. Erst kürzlich fielen die Siedlung Pasar Ikan im Hafenviertel Muara und das Rotlicht- und Glücksspielviertel Kali Jodoh im Zentrum der Stadt Ahoks Law- and Order-Politik zum Opfer.

Seit langem ist bekannt, dass die Überschwemmungen in Jakarta keineswegs nur auf die illegale – wenngleich aus Sicht der Betroffenen alternativlose – Entsorgung von Müll zurückzuführen sind. Weit weg von den Armenvierteln in Jakarta wendet sich unser Blick auf die Ausflugsziele der Reichen. Wer es sich leisten kann besitzt in der Region Puncak ein Wochenend- oder Ferienhaus. Etwas weniger Bemittelte gönnen sich dort in großzügig angelegten Hotelanlagen an langen Wochenenden gemeinsam mit der Familie eine kleine Erholung vom Stress des Großstadtalltags.

In der wörtlichen Übersetzung bedeutet »Puncak« soviel wie Gipfel. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch bestenfalls um den Gipfel der Dekadenz. Geografisch gesehen ist Puncak lediglich eine gebirgige Region unweit der Hauptstadt. Hier liegen die Oberläufe und Einzugsgebiete der Flüsse, die wenige Kilometer abwärts Jakarta durchziehen. Mangelnde Wasserhaltekapazität der Böden aufgrund von Abrodung und zunehmender Flächenversiegelung sind einer der wesentlichen Gründe, warum bei starken Regenfällen immer größere Wassermassen ungebremst Jakarta erreichen.

Doch welche Macht hätte ein Gouverneur von Jakarta, um diesen Entwicklungen Einhalt zu gebieten? Die Region Puncak liegt in der Nachbarprovinz Westjava, die sich über die Einnahmen aus dem Tagestourismus freut und keinerlei Probleme mit Überschwemmungen im Unterlauf ihrer Flüsse hat. Und sich mit denjenigen anzulegen, die im Puncak ihre Villen besitzen, käme einem Amoklauf gegen die gesamte politische und wirtschaftliche Elite Indonesiens gleich.

Bleibt daher nur die Suche nach Lösungen und Schuldigen auf dem Gebiet der Hauptstadtprovinz DKI Jakarta selbst. Diese sinkt aufgrund der massiven Grundwasserentnahme und dem Nachsacken der Millionen Tonnen schweren Baulast durch Hochhäuser und Shopping Malls in die leer gepumpten Aquifere jährlich ein paar Zentimeter tiefer. Größere Teile Jakartas liegen unterhalb des nahen Meeresspiegels.

In einer Stadt, in der Golfplätze die einzigen bedeutenden Grünflächen darstellen, gibt es keinen Platz für Rückhaltebecken oder Überschwemmungsgebiete. Ein paar Meter mehr oder weniger Abstand der Bebauung vom Flussufer werden das Problem nicht lösen. Wer käme wohl ernsthaft auf die Idee, die BewohnerInnen der Kölner Altstadt umzusiedeln, weil ihre Häuser zu nah am Fluss stehen und immer wieder von Hochwassern betroffen sind? Die Probleme müssen woanders, viele Kilometer flussaufwärts gelöst werden.

Gotong Royong: ein indonesischer Kampung

Zugegeben, als ich vor einigen Jahren in meiner Eigenschaft als Ingenieur für Technischen Umweltschutz eingeladen wurde Bukit Duri zu besichtigen, um den AnwohnerInnen danach Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten, war ich ratlos. Ein paar kleinere Schönheitsreparaturen hätten nichts bewirkt. Kaum ein einziges der Häuser, die ich betreten durfte, entsprach auch nur im Geringsten den Anforderungen an Komfort und Hygiene, die eine menschenwürdige Unterkunft ausmachen. Wie sollte man Wände aus angeschimmeltem Sperrholz anders sanieren als durch einen kompletten Austausch? Konsequent zu Ende gedacht hätte das für die meisten Häuser in Bukit Duri den Abriss und Neuaufbau bedeutet. Auch mir drängte sich der Gedanke auf, dass es eigentlich für das gesamte Viertel keine andere Alternative geben würde. Aber das entsprach nur meinem ingenieurmäßigen Denken.

Auf der anderen Seite entdeckte ich Merkmale dieses Viertels, die es sich durchaus zu schützen lohnte. Bukit Duri war keine der üblichen Spontansiedlungen am Rande eines Bahndamms, wo sich Neuankömmlinge aus der Provinz auf die Schnelle eine Hütte aus Wellblech und Plastikplanen bauen. Bukit Duri war vielmehr ein über Jahrzehnte gewachsener Kampung (traditionelles Nachbarschaftsviertel), in dem man sich kannte und einander aushalf.

Gotong Royong, die gegenseitige Nachbarschaftshilfe und der Zusammenhalt als lokale Gemeinschaft, sind kulturelle Werte, die Indonesiens offizielle VertreterInnen auf internationalem Parkett gerne positiv herausstellen. Doch kaum irgendwo in der dynamisch pulsierenden Großstadt Jakarta finden sich diese traditionellen Werte noch wieder. Die obere Mittelklasse isoliert sich je nach Familienstand in gated communities oder in riesigen Appartementkomplexen, in denen bestenfalls der Pförtner einen Teil der BewohnerInnen beim Namen kennt. Letztere erleben zunehmend dieselbe Entfremdung und Anonymisierung wie die Menschen in Großstädten Europas, Nordamerikas oder Australiens. Es sind die Armenviertel wie Bukit Duri eines war, in denen die von den Eliten rhetorisch häufig in Anspruch genommenen indonesischen Werte tatsächlich noch lebendig sind.

Was sollte ich den Leuten dort für Empfehlungen geben? Dass eine vom Schimmel zerfressene Sperrholzwand besser ersetzt werden sollte? Dass es vielleicht gut wäre, die vom Rost zerfressenen undichten Wellblechplatten auf dem Dach zu erneuern? Oder dass es vielleicht gesünder wäre die Hausbrunnen von 15 Meter Tiefe auf rund 60 Meter zu vertiefen, weil das Grundwasser dort noch weniger verseucht ist? Wer bin ich, um diesen in Armut lebenden Menschen solche Empfehlungen auszusprechen? Als ob sie nicht selbst wüssten, dass ein Haus ohne Ratten angenehmer wäre als eine Wohngemeinschaft mit diesen ungeliebten kahlschwänzigen MitbewohnerInnen.

Die Bürokratie unter Gouverneur Ahok betreibt nun offensiv die Zerschlagung solcher Kampungs und die Umsiedlung der BewohnerInnen in neugebaute Sozialwohnungskomplexe. Wohnten sie bislang bescheiden, aber weitgehend kostenlos, so müssen die Leute nun Miete bezahlen. Der Schuhmacher an der Ecke, den alle kannten und bei ihm ihre abgelaufenen Schuhsohlen ersetzen ließen, ist im Sozialwohnungskomplex seine angestammte Kundschaft los. Er weiß nicht, wovon er über die nächsten Monate und Jahre die Miete bezahlen soll.

Sanggar Ciliwung

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Das Gebäude des Nachbarschaftszentrums Sanggar Ciliwung

Foto: Alex Flor

Der ehemalige Jesuitenpater Sandyawan Sumardi betreute die BewohnerInnen von Bukit Duri seit 2000 tatkräftig durch die von ihm gegründete Nachbarschaftshilfe Sanggar Ciliwung. Mitten im Kampung wurde ein Gebäude errichtet, welches als eine Art Stadtteilzentrum fungierte. Jugendliche bekamen hier außerschulischen Englischunterricht und wurden animiert, sich durch eine Recyclingkampagne für Plastikflaschen ein kleines Taschengeld zu verdienen. Unter fachkundiger Betreuung wurden ihnen einfache handwerkliche Fähigkeiten beigebracht, die sie in ihrem späteren Berufsleben sinnvoll einsetzen konnten.

Sanggar Ciliwung förderte den traditionellen Zusammenhalt dieses Kampungs. BewohnerInnen wurden in ihrem Widerstand gegen die städtischen Entwicklungspläne gestärkt, während Architekten und Stadtplaner der Organisation nicht müde wurden, der Provinzregierung Pläne zu einer sozialverträglichen Neuordnung des Viertels vorzulegen.

Die Räumung: illegal?

Genützt hat es nichts. Am Mittwoch, den 28. September 2016, rückte ein Räumkommando mit Baggern und ca. 550 Polizeikräften in Bukit Duri ein. Eines nach dem anderen wurden sämtliche Gebäude zerstört, darunter auch das solide gebaute Haus von Sanggar Ciliwung. Gut beraten von Sandyawan Sumardi blieb der Protest der AnwohnerInnen zwar bestimmt, aber friedlich.

Menschenrechtsorganisationen kritisierten, dass die Räumung entgegen geltenden Rechts durchgeführt wurde, während der Streit um verschiedene Landrechtstitel noch vor Gericht anhängig war. Offenbar nimmt es auch der Law and Order predigende Gouverneur Ahok mitunter nicht allzu genau mit dem Gesetz.

Das Rechtshilfeinstitut LBH Jakarta zählte im letzten Jahr 113 Räumungen seitens der Stadtverwaltung. Davon waren 3.433 Familien betroffen. 8.145 Häuser und 6.283 Kleinunternehmen wurden nach Angaben von LBH Jakarta zerstört. Die Mehrzahl der Betroffenen haben mehr als 30 Jahre dort gelebt, von wo sie nun vertrieben wurden.

Festgenommen und deportiert: fotografierende Ausländer

Halbwegs gut vernetzte und sprachkundige FreundInnen Indonesiens werden im Internet problemlos weitere Nachrichten, Kommentare, Bilder und Videos über die Räumung von Bukit Duri finden. Führende Fernsehkanäle berichteten live von vor Ort. Nichts blieb verborgen.

Frank Sedlar von der Universität Michigan, USA, Bauingenieur und Fulbright-Stipendiat, arbeitet mit einem Forschungsvisum zu Flutursachen in Jakarta. Ein Freund, ebenfalls aus den USA, war gerade zu Besuch und begleitete Sedlar nach Bukit Duri. Normalerweise schert sich in Indonesien niemand darum, mit welchem Visa jemand unterwegs ist. Es sei denn, man ist zur falschen Zeit am falschen Ort …

Sedlar und sein Freund wurden festgenommen. Bukit Duri wurde mit der Begründung geräumt, es diene der Hochwasserbekämpfung. Es erscheint logisch, dass ein über Hochwasserursachen forschender Wissenschaftler davon Fotos machen wollte. Auf Seiten der Immigrationsbehörde findet man dafür jedoch wenig Verständnis: »Er hat in der Tat ein Forschungsvisum. Aber warum muss er Fotos von der Räumung in Bukit Duri machen?«, fragte Heru Santoso. Sprecher der Immigrationsbehörde in Südjakarta (Jakarta Post, 29. September 2016).

Sedlar wurde unter Auflage der regelmäßigen Meldung bei den Behörden einstweilen auf freien Fuß gesetzt. Sein mit Touristenvisum unterwegs gewesener Freund soll (Stand: 1.10.2016) des Landes verwiesen werden. Weil er etwas gesehen hat, was die gesamte Welt bei Interesse in aller Ausführlichkeit im Internet anschauen kann.


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