Aceh und die Scharia
Deutsche Welle, 23. Mai 2017
von Thomas Latschan
Die öffentlichen Stockhiebe gegen Homosexuelle lenken die Aufmerksamkeit auf Aceh. Es ist die konservativste Provinz im insgesamt zum Fundamentalismus driftenden Indonesien.
Peitschenhiebe für einvernehmlichen Sex
Religiös-konservative und islamistische Strömungen sind in Indonesiens Politik und Gesellschaft immer stärker auf dem Vormarsch. Unter anderem zeigt sich das auch in der besonders konservativ-islamisch geprägten Provinz Aceh, wo jetzt zwei Männer wegen homosexuellen Geschlechtsverkehrs öffentlich der Prügelstrafe unterzogen wurden, unter zustimmender Anteilnahme der Bevölkerung. Nur in Aceh steht Homosexualität in Indonesien unter Strafe, aber diese drakonische Strafe – jeder der beiden erhielt 83 Stockhiebe – wurde jetzt zum ersten Mal angewendet. Zugleich wurden auch zwei unverheiratete Paare wegen „unzüchtigen“ Umgangs mit Stockhieben „bestraft“.
Der massive Wiederaufbau der Provinz, vor allem mit ausländischer Finanzhilfe, nach der verheerenden Katastrophe durch den Tsunami im Dezember 2004 hat beeindruckende Erfolge auf wirtschaftlichem Gebiet erzielt. Aber dem entsprachen keine geistige Modernisierung und keine Erfolge auf dem Gebiet der Menschenrechte.
Aufstieg des Fundamentalismus nach der Tsunami-Katastrophe
Statt dessen etablierte sich weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit in Aceh ein fundamentalistisches Regime. So ist Aceh die einzige Provinz Indonesiens, in der offiziell die Scharia eingeführt wurde, mit schweren Folgen: „In den vergangenen zehn Jahren hat sich das öffentliche Leben in Aceh völlig gewandelt“, erklärte Alex Flor von der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia! zehn Jahre nach der Tsunami-Katastrophe gegenüber der DW. „So gibt es etwa die Prügelstrafe für Glücksspiel, Alkoholkonsum oder für das Ausgehen mit einem Partner, der nicht Ehepartner, Bruder oder Schwester ist. Frauen müssen immer und überall ein Kopftuch tragen und dürfen nur als Beifahrerin und nur im Damensitz Motorrad fahren.“ Damals wurde auch das Gesetz erlassen, nach der Homosexualität mit bis zu 100 Peitschenhieben geahndet werden kann.
Die Einhaltung all dieser Gesetze wird von einer „Scharia-Polizei“ überwacht, einer Ordnungsmacht, die neben der eigentlichen Polizei agiert. „Diese Scharia-Polizei besitzt ausschließlich die Aufgabe, Übertretungen der Scharia-Ordnung zu ahnden“, so Flor: „Beim ersten Mal werden die Menschen freundlich aber bestimmt darauf aufmerksam gemacht, was verboten ist. Beim zweiten oder dritten Mal hagelt es Strafen.“ Und zwar drastische und öffentlich, als Abschreckung für andere.
Dass die Religion in Aceh strikter ausgelegt wird als in vielen anderen Teilen des Landes, ist nicht neu. „Aceh hatte immer schon den Spitznamen ‚die Veranda Mekkas’„, sagt Felix Heiduk von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik. „Die Region war das Einfallstor des Islam nach Südostasien und deshalb der konservativste Teil Indonesiens. Darüber hinaus wird der Tsunami von 2004 heute als ‚Strafe Gottes für sündhaftes Verhalten in Aceh‘ gedeutet“, so Heiduk. „Politische Gruppen haben diesen Diskurs für eine sehr strikte Implementierung der Scharia instrumentalisiert. Und dem können sich die Menschen kaum entziehen, wenn sie nicht als ‚unislamisch‘ gelten wollen.“
Ende des Bürgerkrieges
Schon vor dem Tsunami war Aceh ein weitgehend zerstörtes Land: ausgelaugt von einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg, heimgesucht von immer wiederkehrenden Militäroperationen, gezeichnet von massiven Menschenrechtsverletzungen. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre, als die Widerstandsgruppe „Bewegung Freies Aceh“ („Gerakan Aceh Merdaka“ – kurz: GAM) gegründet wurde, gärte es in dem Landstrich an der äußersten Nordwestspitze Sumatras. Immer wieder ging die Zentralregierung in Jakarta militärisch gegen die Separatisten der GAM vor. Besonders massiv in den 1990ern, als die Provinz inoffiziell zum militärischen Operationsgebiet erklärt wurde. Im Namen der Befriedung Acehs ließ Jakarta seiner Armee freie Hand: Sie verhaftete und folterte willkürlich Menschen und ließ viele von ihnen einfach verschwinden. Tausende von Zivilisten, auch Frauen, Kinder und alte Menschen, wurden getötet.
Nach einer Phase relativer Entspannung brachen die Kämpfe 2003/2004 erneut aus. In den Monaten vor dem Tsunami wurde die GAM massiv zurückgedrängt. Indonesiens damalige Präsidentin Megawati Sukarnoputri suchte die militärische Entscheidung. Doch im Oktober 2004, nur zwei Monate vor dem Tsunami, verlor sie die Wahlen gegen ihren ehemaligen Sicherheitsberater Susilo Bambang Yudhoyono, der Aceh gegenüber mehr Kompromissbereitschaft andeutete. „Für den Friedensprozess wirkte der Tsunami wie ein Katalysator“, erklärt SWP-Experte Felix Heiduk: „Die Katastrophe hat den Druck auf beide Konfliktparteien massiv erhöht, Frieden zu schließen, um überhaupt den dringend benötigten Wiederaufbau voranbringen zu können.“
Im August 2005 unterzeichneten beide Seiten ein Abkommen, das der Provinz weitreichende Autonomierechte zugestand und den Grundstein dafür legte, dass die GAM sich von einer bewaffneten Rebellenbewegung in die bestimmende politische Kraft der Provinz wandeln konnte.
Von Rebellen zu Fundamentalisten
Die Wendung der führenden Partei Acehs hin zum fundamentalistischen Islam war für Kenner Indonesiens wie Felix Heiduk überraschend. „Die Einführung der Scharia war überhaupt keine Kernforderung der Unabhängigkeitsbewegung in Aceh. Die ganze Debatte ist erst 2001 lanciert worden – und zwar von Jakarta. Damals hieß es: Unabhängigkeit gibt es auf keinen Fall. Höchstens Autonomie. Und dann könnt ihr auch die Scharia haben. Und das haben sie Aceh dann auch zugestanden.“
„Die Entwicklung in Aceh ist Teil eines breiteren Trends hin zu einer stärkeren gesellschaftlichen Islamisierung“, konstatiert Alex Flor von Watch Indonesia! bereits 2014 gegenüber der DW. Noch sei die Gesetzgebung in punkto Sexualität, Kleidung, Alkohol nicht so extrem wie in Aceh, es gebe es keine Prügel- oder sonstigen Körperstrafen. „Nichtsdestotrotz habe ich schon das Gefühl, dass in diesen anderen Regionen Aceh doch auch ein bisschen als Vorbild gesehen wird, nach dem Motto: Wenn wir könnten, würden wir vieles auch so machen wollen.“
Am Tag vor der öffentlichen Auspeitschung der beiden Männer in Aceh wurden bei einer Razzia in einem Schwulenclub in Jakarta über 100 Männer mit öffentlicher Zurschaustellung vorübergehend festgenommen, gegen zehn Beschuldigte, darunter der Besitzer des Clubs und Mitarbeiter, soll wegen Verstoßes gegen das strikte Pornografie-Gesetz des Landes Anklage erhoben werden. Eine ähnliche Anti-Schwulen-Aktion fand im April in Surabaya statt.