neue Publikation: Peacebuilding in Aceh – zwischen Tsunami und Scharia
11. Juli 2017
Basilisa Dengen und Alex Flor (Hrsg.) für Watch Indonesia!
Peacebuilding in Aceh
Zwischen Tsunami und Schariaregiospectra verlag
format 225 x 155 mm, 226 seiten
isbn 978-3-940132-95-6
preis € 19,90 zzgl. Versandkosten (D) (hier bestellen)
www.regiospectra.deDer Tsunami am 26. Dezember 2004 rückte Aceh von einem Tag auf den nächsten ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Private Spenden und öffentliche Mittel übertrafen alle zuvor dagewesenen Hilfsprogramme.
Durch die Katastrophe wurden auch die Karten in dem seit drei Jahrzehnten anhaltenden gewaltsamen Konflikt völlig neu gemischt. Internationale Akteure fühlten sich als Vermittler auf den Plan gerufen und erzielten im August 2005 das Friedensabkommen von Helsinki. Doch das internationale – und damit auch deutsche – Interesse war nicht von langer Dauer. Spätestens seit dem Abschluss der Wiederaufbauprojekte und dem Abzug sämtlicher internationaler Kräfte ist es um Aceh still geworden und die Region geriet wie in den Jahren vor dem Tsunami erneut in Vergessenheit.
Der vorliegende Band soll Aceh wieder in Erinnerung rufen und beleuchten, wie sich die Situation zwölf Jahre nach Helsinki darstellt. Welchen Herausforderungen für die Zukunft hat sich die Provinz heute zu stellen? Und welche Lösungsansätze gibt es dafür?
Mit Beiträgen von Indria Fernida, Anton Aliabbas, Al Araf, M. Nur Djuli, Gunnar Stange, Patrick Kübart, Juanda Djamal, Adriana Sri Adhiati, Kristina Großmann und Ferdiansyah Thajib.
Inhalt
Leseprobe
Einführung
von Alex Flor
Mit dem „Pornovideo“ in die Moschee
Dezember 2005. Eben noch hatte ich einem Händler auf dem notdürftig wiederhergestellten Markt in Banda Aceh zwei VCDs (lies: visidi; Video-CD, ein damals in Indonesien populärer Vorgänger der DVD) mit Aufnahmen der Dangdut-Sängerin Inul abgekauft. Sie war seinerzeit weniger für ihre Sangeskünste als vielmehr für ihren Tanzstil bekannt. Mit ngebor – sich hineinbohren – wurden ihre aufreizenden Hüftbewegungen beschrieben. In ganz Indonesien, erst recht aber in der streng islamischen Provinz Aceh galten Inuls Auftritte als skandalös. Die ältere Generation in Ländern des sogenannten Westens mag sich an Elvis – the pelvis erinnern. Ich selbst bin zu jung, um ernsthaft Vergleiche anstellen zu können zwischen dem gesellschaftlichen Schock, den das prüde Amerika in den 1950er Jahren durch die Hüftbewegungen Elvis Presleys erlebte, und der Wahrnehmung von Inuls ngebor-Tanz in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts in Indonesien. Sicher ist nur, dass die Skandalisierung ihres Auftretens weder der Popularität des einen noch der anderen geschadet hat. Freimütig erzählte mir der Verkäufer auf dem zentralen pasar (Markt) von Banda Aceh, dass die VCDs von Inul einer seiner Verkaufsschlager seien. Moralische Probleme wegen des Verkaufs dieser später als ‚pornografisch’ eingestuften Videos hatte er ebenso wenig wie zahlreiche andere Markthändler mit nahezu identischem Angebot. Dass diese schwarz gehandelten VCDs auf dem heimischen Player später zu ständigen Aussetzern führen sollten – geschenkt!
Die ‚anrüchige’ Visidi in der Tasche besuchte ich ein paar Minuten später die große Baiturrahman-Moschee, das Wahrzeichen der Stadt. Niemand hatte versucht, mich – einen Ungläubigen – daran zu hindern, diesen sakralen Ort zu betreten. Im Gegenteil. Im Inneren der Moschee waren Videoleinwände aufgebaut, die jenseits aller Sprachkenntnisse den Schrecken des Tsunamis und die Wahrhaftigkeit Allahs ins Gedächtnis rufen sollten. AusländerInnen und Ungläubige waren herzlich willkommen. Tausende von ihnen waren damals im Rahmen der unterschiedlichsten Wiederaufbauprojekte in Aceh tätig gewesen. Man war ihnen dankbar für ihre Leistungen. Und selbst die konservativsten Kleriker erklärten ihren Gemeinden, dass es in der Not besser sei, etwas zu essen als sich Gedanken darüber zu machen, ob die gespendeten Lebensmittel auch halal (islamisch rein) seien oder nicht. Selbst über die ein oder andere Büchse Bier der ausländischen HelferInnen wurde diskret hinweggesehen. Toleranz war das Mindeste, womit man seiner Dankbarkeit für die Hilfsleistungen aus aller Welt Ausdruck verleihen konnte. Die weltweiten Reaktionen auf den Tsunami waren das bis dahin größte und umfassendste Projekt der internationalen Katastrophenhilfe.
Verteidigung der nationalen Einheit …
Zähneknirschend mussten nationalistische Hardliner aus Militär und Politik Indonesiens diese ‚Intervention’ fremder Mächte auf ihrem Territorium hinnehmen. Sie mussten mitansehen, wie diese Fremden von der Not leidenden Bevölkerung in Aceh begeistert empfangen wurden. Ein Flottenverband der US-Navy ankerte bereits wenige Tage nach der Katastrophe vor der Küste Acehs und versorgte die Überlebenden mit Trinkwasser und Nahrungspaketen. Das indonesische Militär war währenddessen noch damit beschäftigt, die eigenen Verluste zu zählen, die in ihren Stellungen in Aceh ebenso zu Opfern des Tsunamis geworden waren wie ihre Rivalen von der Unabhängigkeitsbewegung GAM (Bewegung Freies Aceh).
Insbesondere das gesteigerte Engagement der US-Truppen wurde von vielen Seiten misstrauisch beäugt. Vom Hubschrauber abgeworfene Hilfspakete seien vielleicht gerade noch okay, aber man hätte die amerikanischen Soldaten auf keinen Fall an Land lassen dürfen, wo sie ganz sicher Straßen, Wege und Ortschaften ausspionierten, hörte ich noch zwei Jahre später an einem warung (Essensstand) in Padang, Westsumatra. WLAN alias WiFi war noch gänzlich unbekannt. Doch schnell ließ ich mir per Kabel eine Verlängerungsleitung zum nahe gelegenen Internetcafé legen und führte den Leuten auf meinem Laptop die Möglichkeiten des damals noch neuen Features namens Google Earth vor. Auf den Punkt genau konnte ich dort zeigen, auf welcher Seite der Straße wir gerade saßen. Und ich fragte, wo es angesichts dieser Bilder noch etwas durch physisch präsente Kundschafter auszuspionieren gäbe? Je geringer der Zugang zu Information, desto größer der Spielraum für Gerüchte und Verschwörungstheorien.
Nach dem Tsunami vom 26. Dezember 2004 benötigte die indonesische Luftwaffe Tage, um das Katastrophengebiet zu überfliegen und eine erste Einschätzung der Lage treffen zu können. Gab es eigentlich noch die Insel Simeuluë, die dem Epizentrum des schweren Seebebens, welches den Tsunami auslöste, am nächsten lag? Oder war Simeuluë wie einst Atlantis für immer im Meer verschwunden? Anekdotisch wird berichtet, dass es eine Bank in Jakarta war, die die ersten Lebenszeichen von dieser Insel verzeichnen konnte: Von einem ihrer Geldautomaten war Geld abgehoben worden. Es musste also nicht nur Überlebende, sondern auch noch das ein oder andere zu kaufen gegeben haben.
… und Abwehr der Christianisierung
Während sich das Militär und nationalistische Kräfte noch hilflos darum besorgten, dass die bis dahin vor Ausländern streng abgeschottete Krisenprovinz Aceh plötzlich von tausenden Hilfskräften aus aller Welt überschwemmt wurde, die allesamt verdeckte Spione sein könnten, sorgten sich islamische Kräfte außerhalb (!) Acehs vor allem um die mögliche Christianisierung der bislang streng muslimisch geprägten Provinz.
Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, sandten auch sie ihre Kräfte nach Aceh. Sie kamen aus Java, aus Sulawesi und anderen Regionen, in denen islamistische Kräfte bereits zuvor für Unruhen und blutige Konflikte gesorgt hatten. Welche Verbindungen es dabei bereits zu Hilfsorganisationen aus Kuweit, Katar und Saudi-Arabien gab bzw. welche Verbindungen möglicherweise erst durch das Zusammentreffen in Aceh entstanden, wird ebenso noch zu untersuchen sein wie die Frage, inwieweit die islamischen Organisationen und die Menschen in Aceh selbst noch am Steuer dieser Entwicklung saßen.
Heute würde sich kein Markthändler in Aceh mehr trauen, eine der Pornografie verdächtige VCD oder DVD offen anzubieten. Der Zugang zur Moschee ist mir verboten. Es würde auch nicht mehr möglich sein, mich alleine mit einer befreundeten Kollegin am Abend bei ihr zu Hause zum gemeinsamen Essen zu treffen. In ihrem Büro durfte ich zuvor die interessante Erfahrung machen, dass transsexuelle (biologische) Männer in Aceh gerne Kopftuch tragen. Inzwischen auch undenkbar, mich anschließend von dieser Kollegin und Freundin auf dem Motorrad nach Hause fahren zu lassen. Zumindest sie müsste mit einer Festnahme durch die Scharia-Polizei und einer späteren Prügelstrafe rechnen. Was mich selbst betrifft, habe ich keine Ahnung. Zunächst hieß es, dass die Scharia nur muslimische EinwohnerInnen Acehs betreffe. Dutzende Männer und Frauen wurden öffentlich vor der Moschee ausgepeitscht. Ihre Vergehen waren meist Glücksspiel, Alkoholkonsum oder zu intime Nähe zu einer nicht angeheirateten Person. Vor einigen Monaten wurde zum ersten Mal auch eine Nicht-Muslima ausgepeitscht, weil sie in Aceh verbotenerweise Bier verkauft hatte.
Die humanitäre Pause
Nur wenige Meter von der Baiturrahman-Moschee entfernt fand ich mich vor einem leeren Grundstück wieder. Eingelassen in einem Stück Mauer zur Straße hin befand sich eine Tafel, auf der noch „Hotel Kuala Tripa“ zu lesen war. Auf dem leeren Grundstück fand ich eine von Mauerresten umgebene, mit Wasser gefüllte Grube. Das mussten die Fundamente und der Swimmingpool des einstigen Nobelhotels gewesen sein. Bei einem schweren Nachbeben kurz nach dem Tsunami brach das Gebäude in sich zusammen.
Ich schaute einem Mann zu, der sich mit einer kleinen Eisensäge an den wenigen Armiereisen zu schaffen machte, die wie die Tentakel eines toten Käfers noch aus den Resten der Fundamente hervorragten. Vielleicht würde ihm ein Schrotthändler für ein paar Kilo angeliefertes Alteisen einen Preis erstatten, von dem er sich und seiner Familie am nächsten Tag einen Teller Reis leisten konnte.
„In diesem Hotel habe ich vor fünf Jahren gewohnt“, erzählte ich ihm. Doch der Mann war nicht an einer Unterhaltung interessiert. Vielleicht, weil er zu viel zu tun hatte, vielleicht weil er nicht beim ‚Diebstahl’ erwischt werden wollte oder vielleicht weil ihm die Klasse von Leuten, die einst in diesem Nobelhotel verkehrten, ziemlich egal war.
Tatsächlich war auch ich den Aufenthalt in solchen Luxushotels nicht gewohnt. Es waren alleine Sicherheitsgründe, die mich und meine Kollegen damals in ein solches Etablissement gezwungen hatten. Zurück in Medan nahmen wir später mit sehr viel preiswerteren Unterkünften Vorlieb, in denen wir keinerlei Vorzüge vermissten.
Aber Aceh war ein anderes Pflaster. Wir schrieben das Jahr 2000. Offiziell herrschte Krieg, einstweilen unterbrochen durch eine Art Waffenstillstand, der sich „humanitäre Pause“ nannte. In Wahrheit ging der Krieg weiter. In Lhokseumawe hörten wir nächtliche Schießereien und nahe der Hauptstadt Banda Aceh fanden wir morgens eine verkohlte Ruine, wo gestern noch eine Schule gestanden hatte. Heute fast vergessen, waren Meldungen über abgebrannte Schulen damals an der Tagesordnung.
Wer hatte diese Schulen in Brand gesteckt? War es das indonesische Militär, um die als „separatistisch“ abgestempelte Mehrheitsbevölkerung zu demütigen? Oder war es die GAM, die im Niederbrennen von Schulen möglicherweise ein wirksames Mittel gegen die staatliche Indoktrination der Jugend erkannt zu haben glaubte? Ging es der GAM vielleicht einfach nur darum, staatliche Institutionen da zu treffen, wo sie am verletzlichsten sind? In Schulen? Wir wussten es nicht.
Wir, das waren vier Teilnehmer eines spontan gebildeten Fact Finding Teams, bestehend aus Karim Crow (Islamic Peace Foundation, Malaysia), Abdul Haris Semendawai (Elsam, Indonesien), Michael Beer (Nonviolence International, USA) und mir selbst (Watch Indonesia!, Deutschland). Eine weitere Aktivistin aus Malaysia konnte leider nicht wie geplant an unserer Mission teilnehmen.
Michael und ich hatten uns rein zufällig in Jakarta getroffen. Kurz zuvor war in Aceh die fürchterlich entstellte Leiche des uns gemeinsam bekannten Menschenrechtsverteidigers Jafar Siddiq entdeckt worden. Spontan vereinbarten wir den Start der Untersuchungskommission – wohl wissend, dass wir nicht in der Lage sein würden, neue Fakten ans Licht zu bringen. Ziel unserer Mission war vielmehr die Zeichensetzung, dass sich Menschen im In- und Ausland um die Menschenrechtslage in Aceh sorgten. Die Reise nach Aceh war sehr erhellend.
Ein weiterer mysteriöser Mord
Das erste, was mir auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt Banda Aceh ins Auge fiel, waren die an jedem zweiten Laternenpfahl hängenden Plakate mit der Aufschrift Taste the Freedom. Es war jedoch nicht die SIRA (Sentral Informasi Referendum Aceh), eine der GAM nahestehende Organisation, die beflügelt vom Erfolg des Referendums über die Unabhängigkeit Osttimors hier für ihr Ziel einer ähnlichen Volksabstimmung in Aceh warb. Es handelte sich vielmehr um eine groß angelegte Werbekampagne der Zigarettenmarke Kansas, gegen deren Slogan die Behörden anscheinend keine Einwände hatten.
In Banda Aceh trafen wir unseren Teamkollegen Karim Crow. Er hatte gerade wenige Tage zuvor eine Frau aus „gutem Hause“ in Aceh geheiratet. Die Hochzeit sollte mit einer großen Feier begangen werden. Prof. Dr. Safwan Idris, Rektor der islamischen Hochschule IAIN und Kandidat für die bevorstehende Wahl des Gouverneurs der Provinz Aceh, sollte dort eine Rede halten. Am Morgen telefonierte Karim noch mit Prof. Safwan, der den Entwurf seines Redetextes zu einer letzten Überarbeitung gerade auf dem Bildschirm seines Computers hatte. Wenige Stunden später war Safwan Idris tot. Unter dem Vorwand, sie seien seine Studenten, hatten sich zwei junge Männer Einlass in sein Haus verschafft. Als er kam, um sie zu begrüßen, eröffneten sie das Feuer auf ihn.
Ein paar Tage später waren wir zu einem privaten Abendessen beim geschäftsführenden Interimsgouverneur Ramli Ridwan in dessen Palast eingeladen. Wir wurden sehr höflich empfangen und köstlich bewirtet. Der Gouverneur erstaunte uns durch seine Offenheit und einen gelegentlich durchschimmernden Galgenhumor. Er habe keine Ahnung, wer Jafar Siddiq ermordet hat, und vielleicht würden wir alle es nie erfahren, sagte er. Mag sein, dass er von der GAM getötet wurde, weil er sich nicht konsequent genug für deren Doktrin des Freiheitskampfes eingesetzt habe. Vielleicht waren die Mörder auch Angehörige des Militärs oder der Polizei, denen er als Menschenrechtsverteidiger zu unbequem geworden war. Ramli brachte sogar eine denkbare Täterschaft im Auftrag des US-Unternehmens Exxon Mobil ins Spiel, welches in Jafars Heimatstadt Lhokseumawe in großem Maße Erdgas förderte und sich mehrfach der Kritik Jafars an der Beteiligung von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sah.
Der Gouverneur bedauerte, dass wir uns mit Verweis auf die ab 21.00 Uhr geltende Ausgangssperre schon verabschieden mussten. Er ließ uns gehen und verabschiedete uns mit einer zynischen Bemerkung über die Ausgangssperre, die nicht auf einer behördlichen Anordnung beruhte.
Auch der stellvertretende Polizeipräsident von Aceh (Wakapolda Aceh), Sr. Supt. Teuku Ashikin, war spontan bereit, uns zu einem Gespräch in seinem Büro zu empfangen. Wir entschuldigten uns zunächst dafür, dass wir über keinerlei offizielles Mandat oder entsprechende Visa verfügten. In der Tat seien die Ausländer unter uns nur mit Touristenvisum im Land, und falls das ein Problem darstelle, würden wir selbstverständlich sofort wieder gehen. „Tee oder Kaffee?“, fragte der stellvertretende Polizeipräsident unsere Frage übergehend.
Unsere Überzeugung betonend, dass das Militär für die Verteidigung gegen äußere Bedrohungen zuständig sein sollte, während die Gewährleistung der Sicherheit im Inneren eine Aufgabe der Polizei sein müsse, schleimten wir uns im weiteren Verlauf des Gespräch ein wenig bei ihm ein. Das sei schon alles richtig, aber der Polizei fehle es leider an der notwendigen Ausrüstung, wie zum Beispiel an Hubschraubern. Das Thema kam im weiteren Gespräch mehrfach auf und wenn einer von uns sich als Lobbyist eines Hubschrauberproduzenten hätte zu erkennen geben können, so hätten wir wohl noch am selben Nachmittag einen Auftrag und einen dick gefüllten Umschlag mitgenommen.
Vorsichtig fragten wir weiter, ob es eventuell möglich sei, eine Sicherheitsgarantie zur Fahrt ins Landesinnere nach Takengon zu erhalten, wo sich Informationen zufolge gerade viele Binnenflüchtlinge aufhielten. Die Frage war vielleicht zu naiv formuliert. Denn ohne zu zögern, versprach uns der Polizeichef eine Eskorte nach Takengon und die Vermittlung geeigneter Gesprächspartner. Selbige hätten wir uns allerdings lieber selbst ausgesucht und ohne Anwesenheit der Polizei vertraulich interviewt. Wir verzichteten dankend auf das großzügige Angebot.
Abends zurück in unserem „Hotel Kuala Tripa“. Die GAM hatte hier eine ganze Etage für ihre Unterhändler während des Waffenstillstandes angemietet. Da es wegen der Ausgangssperre keine anderen Alternativen gab, begab ich mich in die Hotelbar. Gut besetzt mit eben jenen Unterhändlern der GAM. Ein Glas Bier in der Hand kam ein Mann auf mich zu: „Kennen Sie mich noch?“ Ich brauchte einen Moment, um den in Zivil gekleideten Herrn wiederzuerkennen. Es war der stellvertretende Polizeipräsident, bei dem wir noch am Mittag zu Gast gewesen waren. Jetzt wurde erst mal mit den Leuten von der GAM getrunken und palavert. Der Krieg hatte Zeit bis zum nächsten Morgen.
Neuauflage des Krieges
Die „humanitäre Pause“ des Jahres 2000 war nur von kurzer Dauer. Beide Konfliktparteien nutzten den Waffenstillstand nicht als Chance für einen längerfristigen Frieden, sondern vielmehr als willkommene Gelegenheit zur Neuaufstellung ihrer jeweiligen Kämpfer. Der Krieg entbrannte mit neuer Heftigkeit. Der als moderater Muslim bekannte Präsident Abdurrahman Wahid (alias Gus Dur), der sich für die Vergehen des indonesischen Staats entschuldigt und für eine friedliche Lösung des Konflikts in Aceh eingesetzt hatte, wurde vor Ende seiner Amtszeit gestürzt. Grund dafür war vor allem die Intransparenz seines Umgangs mit Geldern. Der überaus reiche Sultan von Brunei, des kleinsten Staates innerhalb der ASEAN, hatte Gus Dur eine große Summe Geldes zukommen lassen, die zur friedlichen Beilegung des Aceh-Konflikts verwendet werden sollte. 1
Gus Dur kam dem Auftrag des Sultans nach und investierte das Geld in die Stärkung der islamischen Schulen Acehs. Seine Strategie war offenbar, durch die Stärkung des Islam eine dritte Kraft zwischen den Unabhängigkeitskämpfern der GAM und den nationalistisch orientierten Sicherheitskräften der Republik Indonesien zu schaffen und somit einen Keil zwischen beide Lager zu treiben. In seiner Eigenschaft als Präsident hatte er der abtrünnigen Provinz durch das Sonderautonomiegesetz von 2001 bereits das Recht zur Einführung der Scharia, der islamischen Rechtsprechung, gewährt. Sein Fehler war, dass er die Gelder für die als thaliban bezeichneten Religionsschüler nicht in seiner Eigenschaft als Staatspräsident verwaltete, sondern den feudalen Strukturen Javas folgte. Dort war er als kyai (Gelehrter) der islamischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama (NU), die von seinem Großvater gegründet worden war, gewohnt, in solchen Angelegenheiten freie Hand zu haben. Gus Dur fühlte sich keiner Seite gegenüber rechenschaftspflichtig. Letztlich blieb er den Nachweis der Verwendung der Gelder des Sultans von Brunei schuldig. Nach heftigen politischen Auseinandersetzungen sollte ihn dieser Fehler schließlich das Amt kosten.
Es war die sogenannte poros tengah, die „zentrale Achse“ unter Führung von Amien Rais, einer Leitfigur der modernistischen islamischen Massenorganisation Muhammadiyah und Gründervater der Partei PAN (Partai Amanat Nasional, Partei des nationalen Mandats), die daraus einen Skandal schmiedete. Obgleich sowohl die Modernisten, repräsentiert durch die Muhammadiyah, als auch die Traditionalisten, repräsentiert durch die Nahdlatul Ulama, zurecht gerne als Repräsentanten eines moderaten Islam dargestellt werden, dürfen gravierende theologische Differenzen beider Organisationen nicht außer Acht gelassen werden. Dass der erbitterte Streit zwischen den Alphatieren der beiden islamischen Organisationen letztlich einer Frau an die Spitze des Staates verhalf, darf als Betriebsunfall verbucht werden.
Kraft Amtes als Vizepräsidentin rückte Megawati Sukarnoputri, die Tochter des Republikgründers Sukarno, auf die frei gewordene Stelle im Präsidentenamt nach. Sie verfolgte eine streng auf den Zusammenhalt des Territoriums der Republik Indonesien (NKRI) abgezielte nationalistische Politik. Gerne ließ sie sich auf einem Panzer der indonesischen Streitkräfte (TNI) sitzend für die Presse sowie für Kalender ihrer Partei ablichten. In engster Verbundenheit mit Hardlinern des Militärs wurde unter ihrer Führung der Kriegszustand in Aceh ausgerufen. Zusätzliche Truppen wurden entsandt, nicht zuletzt unter vertragswidriger Benutzung von aus Deutschland gelieferten Landungsbooten.
Watch Indonesia! und andere protestierten gegen den Einsatz dieser Landungsboote. Dies hatte immerhin zur Folge, dass der Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Jakarta im Gefolge einiger Journalisten zu einem Kontrollbesuch nach Aceh eingeladen werden musste. Die Beurteilung durch den Militärattaché blieb butterweich. Ein mitreisender Journalist berichtete uns immerhin über den äußerst groben Empfang durch Bambang Darmono, der damals im Rang eines Brigadegenerals das Kommando über die Militäroperation in Aceh führte: „Wo sind Ihre Papiere? Was haben Sie hier zu suchen?“
Die Aceh Monitoring Group: genug ist genug
Als ich 2005 auf einer Pressekonferenz der AMM (Aceh Monitoring Group) erschien, empfing mich derselbe General Bambang Darmono in Zivil gekleidet bereits am Eingang sehr freundlich mit Handschlag: „Schön dass Sie hier sind, herzlich Willkommen.“ Er hatte keine Ahnung, wer ich bin oder für wen ich arbeite. Auch dass ich keine Akkreditierung für diese Pressekonferenz hatte, war völlig egal.
Die AMM war eine von der EU finanzierte Mission, welche die im Friedensabkommen von Helsinki vom August 2005 getroffenen Vereinbarungen überwachen sollte. General Bambang Darmono vertrat im Kontakt mit der AMM die Seite der indonesischen Regierung. Die Seite der GAM wurde durch deren ehemaligen „Geheimdienstchef“ und späteren Gouverneur der Provinz, Irwandi Yusuf, vertreten. Leiter der Mission war der niederländische Diplomat Pieter Feith. Letzterer verstand seine Aufgabe in erster Linie darin, die Entwaffnung der GAM und den Abzug der indonesischen Truppen zu überwachen.
Unter Vermittlung der AMM verständigten sich die beiden ehemaligen Konfliktparteien auf die Abgabe von Waffen und die Demobilisierung von Truppen. Dabei wurden exakte Zahlen vereinbart, die zu festgelegten Terminen erreicht sein sollten. Mit Zufriedenheit beobachtete die AMM, dass sich beide Seiten strikt an die getroffenen Vereinbarungen hielten. Das sei doch das Wichtigste, erklärte mir Pieter Feith bei einem Gespräch unter vier Augen: Beide Seiten unterstrichen durch die Vertragstreue ihre Entschlossenheit, den Friedensprozess zu vollenden. Denn selbstverständlich wüssten alle Beteiligten, dass die vertraglich festgelegte Zahl der zu zerstörenden Waffen der GAM eine politische Zahl sei. Auf diese habe man sich nun mal geeinigt, und niemand sei so naiv zu glauben, dass diese „politische“ Zahl den tatsächlichen Waffenbesitz der GAM abbildet. Umgekehrt sei auch der Abzug indonesischer Truppen selbstverständlich vom einen auf den anderen Tag wieder rückgängig zu machen. Technisch betrachtet könne die Demilitarisierung eine Neuauflage des Konflikts nicht verhindern. Der eigentliche Wert dieser Maßnahme sei in der gegenseitigen Vertrauensbildung zu sehen.
Irwandi Yusuf erzählte bei einem Treffen mit Presseleuten, an dem ich teilnehmen durfte, freimütig über seine Idee, die von Pieter Feith genannte Logik symbolisch zu unterstreichen. Er überlege sich, ob er zum Abschluss der Demilitarisierungsphase, wenn die GAM „alle“ ihre Waffen abgegeben haben würde, eventuell seine eigene Pistole auf den Tisch legen sollte, begleitet von den Worten: „Und hiermit übergebe ich die letzte Waffe der GAM.“ Er hat den Plan nicht umgesetzt.
Den Erfolg bezüglich der Demilitarisierung und Demobilisierung anerkennend setzten sich Watch Indonesia! und gleichgesinnte Organisationen bei der EU dafür ein, das Mandat der AMM zu verlängern. Denn nach unserer Lesart erstreckte sich dieses Mandat auf sämtliche Punkte, die im Helsinki-Abkommen vereinbart wurden. Dazu zählte nicht zuletzt der Gesetzgebungsprozess für das neue Sonderautonomiegesetz (Law on the Governance of Aceh, LOGA). Eine neutrale Beratung und Begleitung dieses Prozesses wäre unter den damaligen Bedingungen eventuell möglich gewesen. Auswüchse wie die klar in Widerspruch zur indonesischen Verfassung und nationalen Gesetzen stehende extreme Form der Scharia hätten sich dadurch möglicherweise vermeiden lassen.
Im Gespräch mit Pieter Feith wurde schnell deutlich, dass unsere Bemühungen auf EU-Ebene vergeblich sein würden. Denn der Missionsleiter selbst wünschte keine Verlängerung. Er wollte den Erfolg seiner Bemühungen um die Demilitarisierung nach Hause fahren und das Projekt damit zum Abschluss bringen. Wahrscheinlich war ihm klar, dass sein Erfolg nur geschmälert worden wäre, wenn er die AMM auf die Beobachtung und politische Beratung des anschließenden Gesetzgebungsprozesses angesetzt hätte.
„Mittelabflussdruck“: Wiederaufbau im Schatten des Konflikts
Keine der klassischen Organisationen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit verfügte vor der Tsunamikatastrophe 2004 über eigene Informationen oder gar gewachsene Beziehungen zu Partnern in Aceh. Den großen Werken auf kirchennaher Basis fehlten in dieser überwiegend muslimischen Region die lokalen Partner. Und die Abschottung Acehs im Rahmen der verschiedenen Ausnahmezustände machte es über Jahrzehnte hinweg für alle ausländischen BeobachterInnen schwierig, über mehr als nur ein paar Momentaufnahmen berichten zu können. Auch Watch Indonesia! war es lange nicht gelungen, Kontakte zu zivilgesellschaftlichen Gruppen in Aceh herzustellen. Das änderte sich schlagartig mit dem erzwungenen Rücktritt von Diktator Suharto im Mai 1998. Umgehend nahmen NGOs in Aceh Kontakt zu uns auf und gaben zu erkennen, dass sie uns schon lange kannten, aber unmöglich hätten direkt mit uns in Verbindung treten können.
Wir bauten diese Kontakte aus und wurden Dank unserer Sprachkenntnisse bald zu einer der wohl am besten mit Aceh vernetzten Organisationen in Deutschland. Das allgemeine Interesse an dieser Expertise war zunächst gering. Doch auch das sollte sich schlagartig ändern, nachdem an Weihnachten 2004 der verheerende Tsunami alleine in Aceh schätzungsweise 160.000 Menschenleben gekostet hatte und humanitäre Organisationen im Dutzend auf den Plan rief, um dort ein Hilfsprojekt zu platzieren. Unser Telefon lief heiß, weil sie alle plötzlich Informationen über die bislang unbekannte Region Aceh suchten: „Wo ist es sicher in Aceh?“ Nur wenige Organisationen waren daran interessiert, ihre Hilfsprojekte in Zusammenhang mit der einzigartigen Chance zu stellen, damit auch einen Beitrag zur Konfliktbearbeitung zu leisten. Gesucht waren Projekte, die nicht die Sicherheit der eigenen MitarbeiterInnen gefährdeten und keine politischen Implikationen mit sich brachten. Beliebt waren der Bau von Häusern, Wasserleitungen, Straßen und ähnlichen Einrichtungen der Infrastruktur.
Ungeachtet der Tatsache, dass Aceh seit jeher eine streng muslimisch geprägte Region ist, spendeten Zigtausende von Menschen in Deutschland für die Katastrophenhilfe. Und Bundeskanzler Schröder machte spontan die beachtliche Summe von 500 Mio. Euro aus Mitteln des Bundeshaushalts locker, von denen etwa die Hälfte auf Aceh und Nias, die andere Hälfte auf Sri Lanka entfallen sollte. Niemand war wohl mehr beeindruckt von dieser Hilfsbereitschaft als diejenigen, die sich nun in der Verlegenheit sahen, das viele Geld sinnvoll ausgeben zu müssen.
Ich lernte eine neue Vokabel kennen: den „Mittelabflussdruck“. Viele Organisationen zeigten sich von dem Spendenaufkommen überwältigt. Sie wussten nicht mehr wohin mit dem Geld. Einige NGOs riefen sogar zum Spendenstopp oder zur Umwidmung der Spenden für andere, weniger beachtete Notstandsgebiete auf, da sie sich nicht mehr in der Lage sahen, die Menge an Spenden für die Tsunamihilfe sinnvoll auszugeben.
Auch im deutschen Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) zeigte man sich ob der zusätzlichen Mittel nicht sonderlich erfreut. Denn auf die Schnelle rund 250 Mio. Euro sinnvoll auszugeben, ist gar nicht so leicht. Auf einer Sondersitzung im BMZ mit allen Organisationen, die in Deutschland mit Aceh befasst waren, erklärte sich der zuständige Referatsleiter sehr zufrieden über das Ergebnis einer internationalen Geberkonferenz: „Unsere Unterhändler haben gut gearbeitet. Wir konnten einige gute Projekte an Land ziehen.“ Als ein „gutes“ Projekt verstand er vor allem den Wiederaufbau des zentralen Krankenhauses Dr. Zainoel Abidin in der Provinzhauptstadt Banda Aceh. Denn dieses Projekt erfüllte gleich vier aus seiner Sicht begrüßenswerte Kriterien:
- es handelte sich um ein Prestigeobjekt, welches sich mit knappen Worten und einigen Fotos in Tätigkeitsberichten und Broschüren für die Öffentlichkeit einfach und verständlich darstellen ließ;
- es war in der Provinzhauptstadt angesiedelt, was den logistischen Aufwand in Grenzen hielt;
- es barg geringe Risiken in Bezug auf die noch ungewisse Zukunft des bewaffneten politischen Konflikts; und
- es verschlang eine größere Summe des auszugebenden Geldes, sodass man sich nicht in einer Vielzahl von kleineren Projekten zu verzetteln drohte.
„Das machen wir jetzt. Und in fünf Jahren sind wir da wieder raus“, sagte der Referatsleiter, der sich lieber auf die langfristig geplanten Schwerpunktfelder und -regionen der Entwicklungszusammenarbeit mit Indonesien konzentriert hätte.
Ich gab mich auf der Sondersitzung als Vertreter der einzigen anwesenden Organisation zu erkennen, die keinen „Mittelabflussdruck“ verspürte. Watch Indonesia! war vielmehr daran gelegen, die Katastrophenhilfe nicht völlig losgelöst von dem seit drei Jahrzehnten anhaltenden Konflikt zu sehen. Ich warnte vor möglichen neuen Konflikten, wenn sich der Aufbau einer neuen Infrastruktur nur auf die vom Tsunami betroffenen Gebiete beschränke. Sollten hier tatsächlich „blühende Landschaften“ geschaffen werden, könnten sich die BewohnerInnen der im Inneren des Landes gelegenen Regionen benachteiligt fühlen.
Im Protokoll der Sitzung wurde der politisch vorbelastete Begriff der „blühenden Landschaften“ durch den weniger verfänglichen Ausdruck „goldene Küsten“ ersetzt. Das Krankenhaus Dr. Zainoel Abidin wurde zum Ausbildungszentrum für Angestellte der Krankenhäuser und Gesundheitsstationen im Inneren Acehs ausgebaut. Alles weitere, was mit Konfliktbearbeitung und -prävention zu tun hatte, delegierte man in Bonn und Berlin gerne an die EU und die von ihr unterhaltene Aceh Monitoring Mission.
Scharia: zu enge Hosen
Zeitsprung: Wir schreiben das Jahr 2017. Es herrscht seit vielen Jahren Frieden in Aceh. Jedenfalls, wenn man gewillt ist, Frieden als das Ausbleiben eines bewaffneten Konfliktes zu definieren. Die internationalen Organisationen haben ihre Wiederaufbauprojekte längst beendet und die Programme zur Konfliktbearbeitung der AMM und anderer Akteure gehören längst der Vergangenheit an.
Die im Friedensabkommen von Helsinki 2005 vereinbarten besonderen Autonomierechte der Provinz Aceh wurden in Gesetzesform gegossen – und seither regelmäßig überschritten. Der Regierung in Jakarta war und ist es in erster Linie wichtig, die territoriale Einheit der Republik Indonesien zu wahren. Man war bereit, zahlreiche Zugeständnisse zu machen, solange über dem Gouverneurspalast von Aceh die rot-weiße Nationalflagge weht. Nur für einige elementare Politikbereiche behielt sich der indonesische Staat die Richtlinienkompetenz vor, darunter Außenpolitik, Finanzen und Strafrecht.
Die bereits durch das von Gus Dur 2001 geschaffene Sonderautonomiegesetz geschaffenen Rechte zur Einführung der Scharia finden sich auch im Gesetz über die Regierungsführung Acehs (LOGA) wieder, welches 2006 nach dem Friedensschluss von Helsinki verabschiedet wurde. Zahlreiche unter Berufung auf die Scharia erlassene Regelungen, angefangen vom Verbot des Tragens zu enger Hosen über das strenge Alkoholverbot bis hin zur Prügelstrafe, die regelmäßig für solche Vergehen verhängt und öffentlich vollzogen wird, stehen in offenem Widerspruch zur Verfassung der Republik Indonesien, zu nationalen Gesetzen und zu internationalen Menschenrechtspakten, denen Indonesien beigetreten ist.
Die Fakten liegen auf dem Tisch. Das indonesische Innenministerium hätte Befugnis, solche Auswüchse der Gesetzgebung auf Provinzebene zu kassieren und deren Vollzug zu unterbinden. Aber man traut sich nicht. Man traut sich nicht, aus der Zentrale der nationalstaatlichen Macht heraus erneut in die Angelegenheiten der semi-autonomen Provinz einzugreifen und damit möglicherweise ein erneutes Aufflammen von Unabhängigkeitsbestrebungen zu riskieren. Man traut sich auch nicht, unter Berufung auf nationale Gesetze und internationale Pakte die Regeln der Scharia infrage zu stellen. Niemand traut sich das – auch keine der aus Aceh stammenden AutorInnen der vorliegenden Publikation. Die Angst als unislamisch oder gar anti-islamisch gebrandmarkt werden zu können, hält von einfachen Leuten bis hin zu Regierungsmitgliedern in Jakarta alle in Schach.
Wenn überhaupt MenschenrechtsaktivistInnen aus Aceh sich trauen, kritisch zur Scharia Stellung zu beziehen, dann bezieht sich diese Kritik in aller Regel auf einzelne Merkmale, wie die als ungerecht empfundene Tatsache, dass sich nur wohlhabende Leute mit Geld und Gold von der Prügelstrafe freikaufen können.
Wofür haben wir die Leute umgebracht?
Zur Zeit meines Besuches in Aceh im Jahr 2000 gab es ein ähnliches Tabu. Damals traute sich dort niemand, offen die GAM zu kritisieren. Unter der Hand wurde mir jedoch von AktivistInnen und Leuten aus der Wirtschaft gleichermaßen darüber berichtet, dass sie regelmäßig Schutzgeldzahlungen zu entrichten hatten und sich auch sonst von der GAM unter Druck gesetzt fühlten.
Aus diesen Eingeständnissen der Angst ist keine Parteinahme abzuleiten. Denn dieselben Personen berichteten mir auch über Erpressungsversuche seitens des Militärs, der Polizei oder mutmaßlich in deren Auftrag agierender Straßenmilizen. Mitunter schien nicht klar gewesen zu sein, welche Seite da gerade Schutzgeld einforderte.
Es wäre daher naiv davon auszugehen, dass sich jemand durch eine erzwungene Schutzgeldzahlung hätte in Sicherheit wägen können. Denn wehe die andere Konfliktpartei hätte davon erfahren … In solchen Situationen konnte die Zahlung erzwungener Schutzgelder schnell als Parteinahme für den politischen Gegner gewertet werden.
Über Jahre hinweg hatte sich die GAM den Anschein einer säkularen Befreiungsbewegung gegeben. In öffentlichen Kampagnen wurden Menschenrechte und völkerrechtliche Argumente in den Vordergrund gestellt. Der Islam spielte dabei keine Rolle. War diese Haltung nur ein Täuschungsmanöver? Oder gab es seit der Machtübernahme in Aceh einen Gesinnungswandel?
Others supported the implementation of Islamic law but only as part of an overall settlement that posited human rights, revenue-sharing and/or independence as more pressing priorities. GAM spokesmen and student leaders went further by suggesting that Islamic law was merely a ruse by Jakarta to stigmatize the province as fanatical. 2
Wie kommt es, dass sich führende Vertreter der GAM für eine harte Anwendung der Scharia stark machten, nachdem sie die Provinz de facto unter ihre Kontrolle gebracht hatten? Und warum fanden andererseits die schweren Menschenrechtsverletzungen, die in Aceh begangen worden waren und mit denen die Unabhängigkeitsbewegung jahrelang lautstark gegen die indonesische Herrschaft mobil gemacht hatte, plötzlich kaum mehr Aufmerksamkeit in den Reihen der ehemaligen GAM? Warum war man sogar bereit, den politischen Schulterschluss mit reaktionären nationalistischen politischen Parteien Indonesiens wie der vom früheren General Prabowo Subianto gegründeten Gerindra zu suchen?
Über diese und viele andere Fragen kam es zu schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Fraktionen der GAM. Eine der wesentlichen Trennlinien bestand in der Unterscheidung zwischen der einst im sicheren skandinavischen Exil befindlichen Führungselite und denjenigen Kräften, die in Aceh vor Ort unter Risiko von Leib und Leben Widerstand geleistet hatten. Nach der Rückkehr der alten Exilelite sollte es nicht lange dauern, bis sich die beiden Lager auf das Erbittertste zerstritten.
Ein Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war der schmutzige Wahlkampf um das Gouverneursamt in den Jahren 2011 bis 2012, in dessen Verlauf es sogar zu neuerlichen Gewalttaten und politischen Morden gekommen ist. Zaini Abdullah, ein Vertreter der ehemaligen Exilanten, forderte den amtierenden Gouverneur Irwandi Yusuf heraus, der zur Zeit des Konflikts bis zu seiner Festnahme als Chef des Geheimdienstes der GAM in Aceh fungierte. Er konnte sich selbst aus dem Gefängnis befreien, als dieses durch den Tsunami teilweise zerstört wurde.
Im Juni 2011 erklärte Irwandi Yusuf, die Angehörigen der GAM in Aceh hätten die aus dem Exil empfangenen Befehle „zu 120 Prozent“ umgesetzt. „Aber die Leistung der Leute, die sich im Ausland als Führer der GAM verstanden, erreichte nicht einmal 50 Prozent“, sagte er. „Das ist der Grund, warum das verordnete ‚Verschwindenlassen’ vieler Persönlichkeiten aus Aceh letztlich für umsonst war.“ Irwandi führte weiter aus, wen er mit diesen „Persönlichkeiten“ meinte und nannte die Namen Jafar Siddiq, Tengku Muhammad Nasruddin Daud, Ismail Saputra, Professor Safwan Idris, Professor Dayan Dawood und Teuku Johan. 3
Das Rätsel, dem wir durch unsere Fact Finding Mission elf Jahre zuvor auf die Spur kommen wollten, war damit gelöst: Die GAM im Exil hatte die Morde an Jafar Siddiq und Prof. Safwan Idris angeordnet, und ein Kommando unter Irwandi Yusuf hatte sie ausgeführt. Zwar meldeten sich ein paar Kollegen von Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise PB-HAM zu Wort, aber der große Aufschrei des Entsetzens, mit dem man hätte rechnen können, blieb aus. Die Worte des Gouverneurs, dass diese Leute „für umsonst“ ihr Leben lassen mussten, bewiesen sich damit von einer anderen Seite aus betrachtet nochmal aufs Neue.
Irwandi Yusuf war seinem Konkurrenten bei den Wahlen 2012 unterlegen, konnte aber nach den neuerlichen Wahlen im Februar 2017 das Amt für sich zurückerobern.
Zwölf Jahre nach Helsinki: ein Buch über Aceh
Der Tsunami an Weihnachten 2004 rückte Aceh von einem Tag auf den nächsten ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Private Spenden und öffentliche Mittel übertrafen alle zuvor dagewesenen Hilfsprogramme. Durch die Katastrophe wurden auch die Karten in dem seit drei Jahrzehnten anhaltenden gewaltsamen Konflikt völlig neu gemischt. Internationale Akteure fühlten sich als Vermittler auf den Plan gerufen und erzielten im August 2005 das Friedensabkommen von Helsinki. Doch das internationale – und damit auch deutsche – Interesse war nicht von langer Dauer. Spätestens seit dem Abschluss der Wiederaufbauprojekte und dem Abzug sämtlicher internationaler Kräfte, die dort gearbeitet hatten, ist es wieder still geworden um Aceh. Wie in den Jahren vor dem Tsunami ist Aceh wieder zu einer vergessenen Region geworden.
Der vorliegende Band soll Aceh wieder in Erinnerung rufen und beleuchten, wie sich die Situation zwölf Jahre nach Helsinki darstellt. Welchen Herausforderungen für die Zukunft hat sich die Provinz heute zu stellen? Und welche Lösungsansätze gibt es dafür?
Die in der Einleitung genannten persönlichen Eindrücke und Erfahrungen sind notwendigerweise subjektiv und unvollständig. Es sind Momentaufnahmen, die weder das Ergebnis einer wissenschaftlichen Methodik noch die Beobachtungen einer Person sind, die dauerhaft in Aceh lebt. Es werden mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert.
Um einen tieferen Einblick zu gewinnen, lassen wir in dieser Publikation ExpertInnen aus Aceh, Indonesien und Deutschland zu Wort kommen, die sich seit vielen Jahren speziell mit den angesprochenen – und einigen darüber hinausgehenden – Themen intensiv befassen. Von besonderer Wichtigkeit war es uns, Stimmen aus Aceh selbst Raum zu geben. Alle anderen AutorInnen sind Aceh durch ihre wissenschaftliche Arbeit oder andere enge Beziehungen zutiefst verbunden.
Die einzelnen Kapitel geben die Meinung der AutorInnen wieder, die nicht in jedem Fall der Meinung der HerausgeberInnen entspricht. Aus Rücksicht auf ihre Sicherheit oder auf ihre Rolle als WissenschaftlerInnen konnten nicht alle AutorInnen so ungezwungen formulieren, wie ich es mir in dieser Einführung teilweise erlaubt habe. Die Vielfalt der Themen und die unterschiedlichen Blickwinkel der AutorInnen ergeben kein einheitlichen Bild, sondern verdichten sich vielmehr zu einem facettenreichen Gesamtüberblick, dessen Spektrum von der Scharia bis zu LGBT reicht. Und das ist gut so.
1 s. IPAC Report 32, Fußnote 23: IPAC interview with the director of Abdurrahman Wahid Centre, Jakarta, 17 August 2016; See also Teuku Kamal Fasya, „Gus Dur dan Aceh,” Kompas, 30 December 2014. Bulqaini became very close to Gus Dur; he was invited to the presidential palace at least three times during the relatively short period of Gus Dur’s presidency. During his September 1999 visit to Aceh, Gus Dur was scheduled to attend HUDA’s inauguration but could not make it due to a scheduling conflic. But he did attend a student rally, organised by Thaliban, Sentral Informasi Referendum Aceh (SIRA) and other civil society groups, which turned out to be a rally for a referendum. In 2000, Gus Dur secured a grant from Brunei Darussalam for peace efforts in Aceh. The grant was managed by Yayasan Aswaja Aceh, a traditionalist foundation headed by Afdhal Yasin, the former leader of the National Awakening Party (Partai Kebangkitan Bangsa, PKB) Aceh, which many saw as a form of favouritism, since Gus Dur was the national founder of PKB. The grant was used, among other things, to facilitate the travel of traditionalist ulama and other civil society activists to meet with Gus Dur in Jakarta.
2 Rodd McGibbon (2004). East-West Center Policy Studies 10, Secessionist Challenges in Aceh and Papua: Is Special Autonomy the Solution?, Washington.
3 http://acehdalamsejarah.blogspot.de/2011/07/pernyataan-gubernur-acehpetunjuk- baru.html