Indonesien-Information Nr. 1/2003 (Menschenrechte)

 

Gerechtigkeit für die Opfer

Zum Rechtsgutachten über die Ad-hoc-Menschenrechtsprozesse in Jakarta

 

von Alex Flor, Monika Schlicher, Petra Stockmann


Osttimor, der jüngste Staat der Erde, erlangte am 20. Mai 2002 seine Unabhängigkeit. Vorhergegangen waren fünf Jahrhunderte portugiesischer Kolonialherrschaft, eine nur wenige Tage währende Unabhängigkeit im Jahre 1975 und darauf folgend fast 25 Jahre Besatzung durch den mächtigen Nachbarn Indonesien, der sich die Inselhälfte nach einer Militärinvasion als 27. Provinz einverleibt hatte. Von September 1999 bis zum 20. Mai 2002 stand Osttimor unter Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen (UN).

Die nach Ende des Kalten Krieges veränderten internationalen Kräfteverhältnisse und der im Mai 1998 erfolgte politische Wechsel in Indonesien hatten die Möglichkeit des Referendums eröffnet, bei dem sich die Bevölkerung am 30. August 1999 mit überwältigender Mehrheit für die Loslösung von Indonesien entschied. Der Sieg war jedoch teuer erkauft. Bereits Monate zuvor hatten pro-indonesische Milizen eine Terrorkampagne gegen die Zivilbevölkerung begonnen. Die Milizen agierten als Handlanger des indonesischen Militärs, von dem sie aufgestellt und ausgerüstet worden waren. In Liquiça, Dili, Los Palos, Suai und Oecussi verübten sie Massaker, die international Aufsehen erregten. Daneben gab es unzählige Fälle von Morden, Vergewaltigungen, Einschüchterungen und anderen Grausamkeiten mehr. Nachdem die pro-indonesische Seite ihre Niederlage erkennen musste, erreichte die Gewalt ihren Höhepunkt. Die Indonesier verließen fluchtartig die Inselhälfte, während die Milizen ganze Landstriche in Schutt und Asche legten und Hunderttausende zur Flucht ins benachbarte Westtimor zwangen. Mindestens tausend Menschen wurden in diesen Tagen getötet.

„Die Opfer sollen Gerechtigkeit erfahren“, so lautet die Formel, unter der sich die Forderungen nach einer juristischen Aufarbeitung der begangenen Gräueltaten auf einen Nenner bringen lassen. Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Hilfswerke und andere gesellschaftliche Gruppen in vielen Ländern der Welt, Indonesien und Osttimor eingeschlossen, drängten darauf, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Die Vielfalt ihrer Konzepte und Strategien traf sich in der gemeinsamen Auffassung, dass nur ein internationaler Menschenrechtsgerichtshof ein faires Verfahren gewährleisten würde. Zur selben Auffassung gelangte auch eine fünfköpfige Untersuchungskommission, die im Auftrag der UN im November und Dezember 1999 Osttimor besuchte. Diese Kommission unter Leitung von Sonia Picado, an der auch die ehemalige Bundesjustizministerin Dr. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger teilnahm, empfahl in ihrem Abschlussbericht die Einrichtung eines internationalen Menschenrechtsgerichthofes in der Region. 1

Der Widerstand seitens der indonesischen Regierung und die mangelnde Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ließen die Errichtung eines internationalen Gerichtshofes jedoch in weite Ferne rücken, wenngleich sich die UN diese Option bis zum heutigen Tage zumindest formell offen halten 2. Stattdessen akzeptierte man zunächst den Vorschlag Indonesiens, im Rahmen seiner nationalen Gerichtsbarkeit Prozesse gegen eine Reihe von Verdächtigen anzustrengen. Hierzu musste allerdings erst die notwendige Rechtsgrundlage geschaffen werden, was schließlich mit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 26/2000 über die Errichtung von Menschenrechtsgerichtshöfen erfolgte. Mit diesem Gesetz, das weithin als Schritt in die richtige Richtung begrüßt wurde, und der Umsetzung in Form der im März 2002 in Jakarta eröffneten Hauptverhandlungen vor dem Ad-hoc-Menschenrechtsgerichtshof betrat Indonesien Neuland. Aufgrund seiner Unerfahrenheit sowie der innenpolitischen Rahmenbedingungen Indonesiens blieben Zweifel an der Seriosität der Verfahren bestehen. Prominente Verdächtige, wie der ehemalige Oberbefehlshaber des Heeres und Verteidigungsminister Wiranto, der frühere Geheimdienstchef Zacky Anwar Makarim sowie der Oberkommandierende der Milizen, João Tavares, fanden sich entgegen den Empfehlungen der vom Staat eingesetzten Untersuchungskommission KPP-HAM nicht auf der Liste der Angeklagten. Anklage wurde nur noch gegen 18 Personen erhoben, von denen keiner in Untersuchungshaft genommen wurde.

Aufgrund dieser Voraussetzungen sah sich Watch Indonesia! veranlasst, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kommission Justitia et Pax und einem Trägerkreis, bestehend aus Misereor, missio Aachen und dem Menschenrechtsreferat des Diakonischen Werkes der EKD, eine Prozessbeobachtung in die Wege zu leiten und ein Rechtsgutachten in Auftrag zu geben. Dessen zentrale Fragestellung lautete: „Entsprechen die im März 2002 vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Jakarta anhängig gemachten Strafverfahren wegen der Vorgänge im Jahre 1999 in Osttimor internationalen Standards oder handelt es sich nur um ‚Scheinverfahren’ zur Abwendung eines von der internationalen Gemeinschaft angedrohten Ad-hoc-Gerichts?“

Mit Rechtsanwalt Bernd Häusler, Vizepräsident der Berliner Rechtsanwaltskammer und deren Beauftragter für Menschenrechte, konnte ein erfahrener Strafverteidiger für diese Aufgabe gewonnen werden. Als „Mann aus der Praxis“, der gleichwohl über ein umfassendes theoretisches Wissen – insbesondere im Hinblick auf das internationale Strafrecht – und Erfahrung als Beobachter bei Prozessen im Ausland verfügt, interessiert an Menschenrechtsfragen, aber gleichzeitig immer darauf bedacht ist, den objektiven Blick des Juristen nicht zu verlieren, ist es ihm gelungen, ein Gutachten zu schreiben, das auch für interessierte Rechtslaien eine lehrreiche und spannende Lektüre ist. Mit zahlreichen Beispielen aus der internationalen Rechtsprechung – von den Nürnberger Prozessen bis zum Jugoslawien-Tribunal – belegt Häusler, dass der Begriff „internationale Rechtsstandards“ mehr als fragwürdig ist und es daher keinen Anlass für Überheblichkeit gegenüber der Justiz Indonesiens gibt. Aber ist Indonesien auch willens oder in der Lage, „die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen“? Die Verneinung dieser Frage ist nach Art. 17 des Statuts von Rom Grund für eine Verfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof 3.

Das Gutachten beschränkt sich bewusst auf den Blickwinkel des Juristen, der es mit Bedacht vermeidet, politisch wertende Schlüsse zu ziehen. Auch rechtspolitische Fragen werden nur am Rande berührt. So beschränkt sich das Gutachten beispielsweise auf die Feststellung, dass die politisch vorgegebene Beschränkung der zeitlichen und örtlichen Zuständigkeit des Gerichts, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, aus juristischer Sicht nicht von Bedeutung ist, da es Aufgabe des Gerichts gewesen wäre, entsprechend seiner Ermittlungspflicht alle in Frage kommenden Fakten und Unterlagen – also auch über den vorgegebenen örtlichen und zeitlichen Rahmen hinaus – zu ermitteln. Das Gutachten stellt jedoch nicht die Frage, warum die entsprechenden Vorgaben von Seiten der Politik dennoch gemacht wurden und – noch wichtiger –, warum das Gericht sich diese Vorgaben auch selbst auferlegt und damit gegen seine Ermittlungspflicht verstoßen hat.

Das Gutachten setzt sich des weiteren kritisch mit den Beurteilungen der Ad-hoc-Prozesse auseinander, wie sie von renommierten Organisationen wie amnesty international, der International Crisis Group oder Human Rights Watch getroffen wurden. Viele der dort vorgebrachten Kritikpunkte halten nach Ansicht Häuslers einer genaueren juristischen Analyse nicht stand. Sie seien vielmehr Ergebnis einer Sichtweise, die die angloamerika-nische Rechtskultur zur Grundlage nimmt, während das indonesische Rechtswesen in den fraglichen Punkten eher der kontinentaleuropäischen Rechtskultur verhaftet ist. Als bislang wohl erste und einzige Analyse eines Autors aus dieser Rechtstradition kommt dem Gutachten somit ein besonderer Stellenwert zu. Vom „Ballast“ irrelevanter oder nebensächlicher Kritikpunkte, wie sie von einer Reihe von Beobachtern vorgebracht wurden, befreit, bekommt der von Häusler als wesentliches Manko der Ad-hoc-Prozesse identifizierte Umstand umso mehr Gewicht: das nahezu vollständige Fehlen von Beweismitteln in Form schriftlicher Dokumente.

Bevor wir uns näher mit den zentralen Kritikpunkten des Gutachtens beschäftigen und auf daran anknüpfende weiterführende Fragen eingehen, werfen wir einen Blick zurück auf die o.g. Formel „die Opfer sollen Gerechtigkeit erfahren“. Was ist unter dem Begriff „Gerechtigkeit“ zu verstehen? Keinesfalls darf es hier darum gehen, unliebsame Vertreter beispielsweise des Militärs hinter Gitter zu bringen, wenn deren Schuld nicht zweifelsfrei erwiesen ist. Das Maß für Gerechtigkeit ist nicht die Zahl der Verurteilungen oder die Höhe der verhängten Strafen. Es ist wohl unstrittig, dass bei erwiesener Unschuld oder wegen Mangels an Beweisen freigesprochen werden muss. Abseits des Problems, dass manche sich damit schwer tun werden, solche Freisprüche bzw. als „zu milde“ angesehene Urteile zu akzeptieren, stellt uns der Anspruch nach Beweisbarkeit vor ein grundsätzliches Problem, auf das wir noch zurück kommen werden.

Unabhängig von der Urteile ist es für die Opfer wichtig, dass die Wahrheit ans Licht gebracht wird. Die begangenen Taten müssen beim Namen genannt werden. Wenn bei den Prozessen in Jakarta bereits in den Anklageschriften die  Theorie zugrunde gelegt wurde, es habe sich 1999 in Osttimor um einen bürgerkriegsähnlichen Konflikt gehandelt, bei dem es die Sicherheitskräfte sträflich versäumten, bestimmte Übergriffe zu verhindern (Unterlassungstat; omission statt commission), so mag das, wie in dem Gutachten dargelegt, juristisch ohne Belang sein. Denn die Unterlassungstat in Form mangelnder Aufsicht über Untergebene ist strafrechtlich nicht geringer zu bewerten als die aktiv begangene Tat. Für die Betroffenen, die die Angeklagten als Hintermänner der durch die Milizen 4 als ausführendes Organ systematisch begangenen Terrorkampagne erlebt haben, war das Bürgerkriegsszenario jedoch ein Schlag ins Gesicht. So ähnlich mag sich ein Vergewaltigungsopfer fühlen, dessen Peiniger verharmlosend „unehelicher Beischlaf“ vorgeworfen wird – und somit ein Schatten der Schuld auf das Opfer der Straftat selbst zurück fällt.

Nicht nur die Menschen in Osttimor haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, sondern auch Abertausende von Opfern militärischer Maßnahmen und staatlicher Willkür in ganz Indonesien. Wenngleich die Ad-hoc-Prozesse wegen der Gräueltaten in Osttimor aufgrund ihrer besonderen internationalen Bedeutung kein direktes Modell für mögliche zukünftige Verfahren darstellen mögen, so bargen sie doch wenigstens die Chance, bestimmte Fragen nach Täterschaft und Handlungsmustern zu enttabuisieren, die auch für Aceh, Papua und andere Regionen von Bedeutung gewesen wären. Die Ad-hoc-Prozesse hätten Signalwirkung für die Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen andernorts haben können, wenn sie die Wahrheit ans Licht gebracht hätten.

Dabei ist die Wahrheit über die Vorgänge in Osttimor, zumindest was das Prinzip betrifft, allgemein bekannt. Dies zu behaupten ist aufgrund der vorliegenden Fakten kein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, zumal damit noch keine Aussage über individuelle Schuld getroffen wird.  Es macht jedoch einen Unterschied, ob diese Wahrheit auch offiziell anerkannt wird oder nicht. Dies ist nicht nur von Bedeutung in Hinblick auf Konsequenzen wie die Verhängung von Strafen, den Anspruch auf Entschädigung u. dgl., sondern vor allem auch aufgrund der prinzipiellen Frage, ob sich ein Staat zu den in seinem Namen begangenen Verbrechen bekennt. Die Annahme, dass ein Staat, der die Diktatur überwunden hat, sich leicht damit tun würde die Sünden des Vorgängerregimes offen zu benennen ist, wie wir wissen, nicht nur in Indonesien falsch. Weltweit gibt es nur wenige Beispiele, wo dies der Fall war, darunter die Verurteilung des Nazi-Regimes in Deutschland. Aber selbst hier hat die Bereitschaft, Schuld zu bekennen, ihre Grenzen, wie die Diskussion um die Rolle der Wehrmacht deutlich macht.

Kann und darf die internationale Gemeinschaft angesichts der schwer wiegenden Versäumnisse in vielen anderen Staaten einen souveränen Staat wie Indonesien überhaupt dazu drängen, die in seinem Namen begangenen Menschenrechtsverletzungen aufzudecken? Noch dazu, wenn dieser Staat eine geostrategisch wichtige Regionalmacht, bevölkerungsreich und von nicht geringer wirtschaftlicher Bedeutung ist? Und nichts besser versteht als mit seiner Empfindlichkeit gegenüber jeglicher Einmischung in „innere Angelegenheiten“ zu kokettieren?

Regierungen mögen sich mit dieser Antwort schwer tun. Für Vertreter der Zivilgesellschaft gibt es jedoch keinen Anlass, wegen realpolitischer Erwägungen von grundlegenden, universellen Werten Abstand zu nehmen. Die Wahrung der Menschenrechte ist ein solcher universeller Wert, der gleichermaßen in Indonesien wie überall auf der Welt eingefordert werden muss.

Verschiedentlich wird auch die Frage aufgeworfen, ob denn die Aufarbeitung der Vergangenheit Aufgabe des Gerichts sei oder ob diese nicht besser im Rahmen einer Wahrheitskommission geleistet werden könne. Eine Wahrheitskommission kann jedoch keine Alternative zur gerichtlichen Aufarbeitung sein, sondern nur deren Ergänzung. Das indonesische Gesetz über die Menschenrechtsgerichtshöfe sieht auch die Bildung einer Wahrheitskommission vor. Angesichts des während der Ad-hoc-Prozesse gepflegten Geschichtsbildes spricht allerdings wenig dafür, dass diese noch zu bildende Kommission ihrer Aufgabe gerecht werden kann. Menschenrechtler in Indonesien befürchten gar, dass hier lediglich an den guten Namen der Kommission in Südafrika angeknüpft wird, um damit international Anerkennung zu gewinnen. Möglicherweise solle mit der Wahrheitskommission ein Schlupfloch geschaffen werden, mit dem sich die Verurteilung von Tätern zu Gunsten eines „folgenlosen“ Versöhnungsprozesses abwenden ließe 5.

Weder die Ad-hoc-Prozesse noch die Bildung einer Wahrheitskommission wären ohne internationalen Druck denkbar gewesen. Die Entsendung der internationalen Schutztruppe INTERFET nach Osttimor am 20. September 1999 hatte Indonesien zu Verstehen gegeben, dass die Geduld der internationalen Staatengemeinschaft nicht unbegrenzt strapazierbar ist. Indonesien musste auf die Beschlüsse der eigens wegen der Osttimorkrise einberufenen vierten Sondersitzung der UN Menschenrechtskommission (UN-MRK) im September 1999 sowie auf die Resolution des UN Sicherheitsrates vom 25. Oktober 1999 reagieren, wollte es nicht Gefahr laufen weitere unangenehme Konsequenzen hinnehmen zu müssen. Im Wissen darum, dass der internationale Druck nachlassen würde, sobald Osttimor nicht mehr die Schlagzeilen bestimmen würde, setzte Indonesien auf eine Strategie des Zeit Gewinnens einher gehend mit wohldosierten kleinen Schritte des Einlenkens, ohne jedoch jemals eine radikale Abkehr von der bisherigen politischen Linie in Erwägung zu ziehen. Diese Strategie war erfolgreich. Die Verabschiedung des Gesetzes Nr. 26/2000, das den Weg für die Errichtung des Ad-hoc-Gerichtshofes und einer Wahrheitskommission frei machte, genügte, um auf der 57. regulären Sitzung der UN-MRK im März 2001 einer Verurteilung zu entgehen 6. Und genau vier Tage vor Beginn der 58. Sitzung, am 18. März 2002, wurden in Jakarta schließlich die ersten beiden Verfahren eröffnet, über deren Qualität zu urteilen der Kommission zu diesem frühen Zeitpunkt selbstverständlich unmöglich war. In buchstäblich letzter Minute hatte Präsidentin Megawati einen Tag vor Prozessbeginn die letzten beiden zur Verfahrenseröffnung notwendigen Verordnungen unterzeichnet 7. Es steht zu erwarten, dass Indonesien bzw. Osttimor trotz der unbefriedigend verlaufenen Prozesse in Zukunft kaum noch auf der Tagesordnung der UN-MRK stehen werden.

Dass die Errichtung des Ad-hoc-Gerichtshofes keine ganz freiwillige Leistung war, lässt sich auch an der politischen Debatte in Indonesien erkennen. Politiker zeigten sich zwischen nationalem Denken und dem Bewusstsein um die internationalen Erwartungen hin- und hergerissen. Nur kurze Zeit vor der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 26/2000 durch das Parlament (DPR) hatte die Beratende Volksversammlung (MPR) einen Verfassungszusatz beschlossen, der die Rückwirksamkeit von gesetzlichen Regelungen ausschloss 8. Unter den 700 Abgeordneten der MPR befinden sich sämtliche 500 Abgeordneten der DPR. Die selben Personen haben also innerhalb weniger Monate zwei sich einander grundsätzlich widersprechenden gesetzlichen Regelungen zugestimmt! Zunächst wurde daher befürchtet, dass die Ad-hoc-Prozesse für Osttimor wegen Verfassungswidrigkeit niemals stattfinden würden 9.

Ein weiteres Indiz dafür, dass an einer umfassenden Aufklärung des Geschehenen kein Interesse bestand, sind die bereits erwähnten mit den Präsidentendekreten Nr. 53/2001 und Nr. 96/2001 getroffenen örtlichen und zeitlichen Beschränkungen. Diese bestimmen, dass der Menschenrechtsgerichtshof nur autorisiert ist, schwere Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und über sie zu urteilen, die in Dili, Liquiça und Suai im April und September 1999 verübt wurden. Schwerwiegende Fälle wie die Massaker in Los Palos und Oecussi sowie die Vertreibung mehrerer Hunderttausend Menschen über die Grenze nach Westtimor wurden damit ausgeschlossen 10. Insbesondere wenn Häuslers Ansicht zutreffen sollte, dass diese Beschränkungen wegen der Ermittlungspflicht des Gerichts keinen rechtlichen Bestand haben, muss gefragt werden, warum diese Regelungen dennoch getroffen wurden – und warum sich alle Prozessbeteiligten peinlich genau daran hielten. Dies kann nur mit der Intention erklärt werden, dass hier von vornherein verhindert werden sollte, eine den Verbrechen zugrundeliegende Systematik erkennbar werden zu lassen. Damit wird allerdings der Wesensgehalt des prinzipiell so begrüßenswerten Gesetzes über die Menschenrechtsgerichte ad absurdum geführt, denn eine Voraussetzung, die Menschenrechtsverbrechen definitorisch gegenüber gewöhnlichen Straftaten abgrenzt, ist das Vorliegen eines „ausgedehnten“ und „systematisch“ angelegten direkten Angriffs auf die Zivilbevölkerung.

Prozessbeobachter der in Jakarta ansässigen Rechtshilfeorganisation ELSAM legten dar, dass der Begriff des „ausgedehnten“ Angriffs (meluas) bereits im Gesetz nicht korrekt übersetzt und daher ihrer Ansicht nach auch in den Anklageschriften falsch verwendet wurde 11. Die Anklage sah die Voraussetzung eines „ausgedehnten“ Angriffs beispielsweise dadurch erfüllt, dass sich der Konflikt in der Kirche von Liquiça auf einige Gebäude in der Nachbarschaft ausweitete. Die „Systematik“ des Angriffs wurde damit begründet, dass die verschiedenen Gruppen der angreifenden Milizen genügend Zeit fanden, um sich zwischen den frühen Morgenstunden bis zum Mittag auf ein gemeinsames Vorgehen zu verständigen. Dies steht in völligem Widerspruch zu der eigentlichen Bedeutung dieser dem Statut von Rom entnommenen Begriffe, wie sie beispielsweise bei den unter UN-Verwaltung in Osttimor durchgeführten Prozessen zum selben Tatkomplex interpretiert wurde 12 .

Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren dem Statut von Rom entlehnten Gedanken, nämlich der Strafbarkeit eines Vorgesetzten aufgrund eines Unterlassungs-tatbestandes. In allen Verfahren waren Unterlassungstaten der zentrale Anklagepunkt. Aber Staatsanwaltschaft und Gericht zeigten sich nicht in der Lage, diese Unterlassungstatbestände im Sinne einer durchaus als aktiv zu verstehenden „Schreibtischtat“ zu behandeln. Somit wurde letztlich doch wieder das „konventionelle“ aktive Handeln der Angeklagten untersucht und bewertet, das aber nicht Gegenstand der Anklage vor dem Menschenrechtsgerichtshof war, da es vor einem gewöhnlichen Strafgericht hätte verhandelt werden können. Die Begriffsverwirrung führte so weit, dass bspw. im Falle des angeklagten Milizenführers Eurico Guterres nachweislich aktives Handeln (z.B. Aufruf zur Begehung von Gewalttaten) in das Konstrukt der Unterlassungstat durch „mangelnde Aufsicht“ gezwängt wurde, um den Fall als schwere Menschenrechtsverletzung vor den Ad-hoc-Gerichtshof bringen zu können 13. Die Ahndung gewöhnlicher Straftaten, die teilweise im Verlaufe der Prozesse festgestellt und nachgewiesen wurden, lag jedoch nicht in der Zuständigkeit des Ad-hoc-Gerichtshofes 14. Es wird allgemein bezweifelt, dass es wegen dieser Taten noch zu Verfahren vor ordentlichen Strafgerichten kommen wird.

Im Ergebnis heißt das, dass mit dem Gesetz über die Menschenrechtsgerichtshöfe, welches in zentralen Punkten an das Statut von Rom angelehnt ist, Standards definiert wurden, die die Justiz nicht einhalten konnte oder wollte. Je höher der Standard, desto gewisser das Lob der internationalen Gemeinschaft. Desto gewisser aber auch, dass die eigene Justiz diesem Standard nicht würde gerecht werden können.

Die wesentliche Frage, an der die Verfahren gemessen werden müssen, ist, inwieweit es gelungen ist oder zumindest hätte gelingen können, die von Milizen begangenen schweren Menschenrechtsverbrechen als Teil einer systematisch geplanten militärischen Strategie zu begreifen. Genau daran ist das Gericht gescheitert.

Inzwischen sind gegen die meisten der insgesamt 18 Angeklagten die Urteile ergangen. Zehn von 14 Angeklagten wurden freigesprochen, darunter der ehemalige Polizeichef Timbul Silaen sowie die fünf Angeklagten im Verfahren Herman Sedyono u.a., mit deren Fällen sich das Rechtsgutachten näher befasst. Der Milizenführer Eurico Guterres wurde zu einer dem Mindeststrafmaß entsprechenden Strafe von zehn Jahren Haft verurteilt. Gegen den ehemaligen Gouverneur von Osttimor, Abilio José Soares, den früheren Distriktsmilitärkommandanten von Dili, Oberstleutnant Soedjarwo, und den damaligen Polizeichef von Dili, Oberstleutnant Hulman Gultom, wurden Haftstrafen zwischen drei und fünf Jahren verhängt, die sämtlich unter dem Mindeststrafmaß liegen.

Die vorliegenden Urteile in den Fällen Timbul Silaen sowie Herman Sedyono u.a. erkennen an, dass es schwere Menschenrechtsverletzungen gegeben hat. Entgegen dem in den Anklageschriften vorgegebenen Tenor sah das Gericht auch, dass es sich dabei um gezielte „Angriffe“ auf Zivilisten gehandelt hatte und keineswegs um „Zusammenstöße“ unterschiedlich eingestellter Gruppen. Als „Angreifer“ und somit Täter wurden aber „Pro-Integrationsgruppen“ ausgemacht, die nicht dem Befehl oder der Aufsicht der Angeklagten unterstanden, weshalb letztere auch keine Schuld treffe 15.

Die Fragen nach der Rechtmäßigkeit der erfolgten Freisprüche und der individuellen Schuld der Angeklagten können kontrovers diskutiert werden. Von grundsätzlicher Bedeutung – weit über Indonesien und Osttimor hinaus – ist jedoch, wie Staaten, staatliche Organe sowie deren Vertreter für Taten zur Verantwortung gezogen werden können, die von scheinbar unabhängigen Kräften ausgeführt wurden. An verschiedenen Konfliktpunkten in Indonesien ist erkennbar, dass Milizen, bewaffnete Bürgerwehren oder kriminelle Gruppen in zunehmendem Maße dort agieren, wo früher ein direktes Eingreifen von Militär oder Polizei üblich gewesen wäre. Irreguläre, fallweise aufgestellte proxy forces (Handlangertruppen) haben instrumentellen Charakter und gelten nicht als Militärangehörige im eigentlichen Sinne 16. Man bedient sich ihrer immer dann, wenn sich die offiziellen staatlichen Organe die Hände nicht schmutzig machen wollen. Indonesien ist hier kein Einzelfall – man denke beispielsweise an Kolumbien oder an die in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern gefürchteten Todesschwadronen. Das vermehrte Auftreten solcher nicht-staatlichen Akteure ist möglicherweise pervertierte Folge einer zunehmenden „Anerkennung“ der Menschenrechte. Die vorhandenen Instrumente der internationalen Menschenrechtspolitik werden von den Hintermännern der proxy forces geschickt ausgespielt. Auf diplomatischem Parkett wie bspw. der UN-MRK behalten Vertreter von Regierungen und Militärs so den Status anerkannter Gesprächspartner, denen nichts anzuhaben ist.

Nicht nur mit Blick auf Indonesien und Osttimor wäre es daher notwendig, den Nachweis führen zu können, dass die Milizen faktisch dem Kommando des indonesischen Militärs unterstellt waren, um so die Verantwortlichkeit staatlichen Handelns in derartigen Fällen auch international wieder zum Thema zu machen. Dieser Versuch wurde bei den Ad-hoc-Prozessen in Jakarta nicht einmal im Ansatz unternommen.

Häusler kritisiert zu Recht das fast völlige Fehlen schriftlicher Dokumente, die dies belegen könnten, als die wesentliche Schwäche der Prozesse. Die Vermutung, dass umfangreiches Schriftmaterial wie etwa militärische Lageberichte u.dgl. existiert, wurde von General Adam Damiri bei seiner Vernehmung als Zeuge in aller Offenheit bestätigt. Selbstverständlich muss hier gefragt werden, warum dieses Material in den Prozessen keine Verwendung fand.

Bereits ein Blick auf den Bericht der Untersuchungskommission KPP-HAM 17 zeigt, dass diese Kommission offenbar über eine Anzahl nicht unwichtiger Dokumente verfügte, die nach vorgeschriebenem Prozedere der Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Beispielhaft sei hier nur auf das sog. Garnadi-Dokument verwiesen. Dabei handelt es sich um ein Schreiben des Brigadegenerals a.D., H.R. Garnadi, der seinerzeit als Assistent des Koordinationsministers für Politik und Sicherheit für das Komitee zur Ausübung der Sicherheit (P4OKTT) arbeitete, an seinen Dienstherrn. In diesem Schreiben mit Datum vom 3. Juli 1999 – mithin zwei Monate vor Ausübung der „Politik der verbrannten Erde“ – wird die Sicherung des Rückzuges „bei möglicher Zerstörung lebenswichtiger Einrichtungen oder Objekte“ für den Fall, dass das Referendum zu Ungunsten Indonesiens ausfallen würde, als ein in Erwägung zu ziehendes Vorgehen genannt 18. Die Echtheit des Dokumentes wurde zwar von Regierungsstellen wie auch von Garnadi selbst gegenüber den Medien in Abrede gestellt, gleichwohl gab Garnadi zu, dass seine Unterschrift echt sei 19. Eine Erklärung, warum dieses Dokument im Prozess nicht eingebracht – und seine Vorlage zur Überprüfung der Echtheit vom Gericht auch nicht verlangt – wurde, mag in der Tatsache zu suchen sein, dass die „Politik der verbrannten Erde“ aufgrund des zeitlich und örtlich beschränkten Mandats des Gerichts gar nicht Gegenstand der Verhandlung war. Selbst dieser zweifelhafte Grund würde aber nicht im Ansatz erklären können, warum in den Prozessen praktisch überhaupt keine schriftlichen Dokumente vorgelegt wurden.

Aber selbst in Osttimor, wo die Interessenlage eine andere ist, tun sich die Ermittler schwer, den gesuchten Beweis für die Existenz einer Befehlskette zwischen dem indonesischen Militär und den ausführenden Milizen zu erbringen. Wandelt berichtet über die Analyse von Dokumenten der Milizen (nicht des Militärs!) in Osttimor: „Vielfältige Beziehungen mit dem indonesischen Militär waren belegbar, aber keine direkte Kommandounterstellung“ 20. Robinson schreibt über die Analyse der in Osttimor gesichteten Dokumente: „I think it is quite likely that there are no written plans at all, and that the search for a documentary ‚smoking gun’ will ultimately prove to be fruitless.“ Und weiter: „… the analysis here suggests that hard evidence of official planning is unlikely to come from documents, and indeed may never have been explicitly stated in documentary form“ 21.

Fehlende Dokumente müssen jedoch laut Robinson keineswegs bedeuten, dass die exzessive Gewalt ein Ergebnis des Zufalls war: „A second possibility is that the violence was not the product of an explicit plan or command, but was at least in part the result of a deeply embedded system of knowledge, discourse, norms, and behaviour within the TNI – a system I have called a culture of violence. The existence of that culture of violence – which entails an almost reflexive, though constantly changing, understanding of a certain language, technology, and repertoire of violence and terror – arguably means that no explicit order or plan was necessary in order to trigger the actions that were observed. In other words, TNI soldiers and police deployed in East Timor – whether they were in the territorial structure, the sectoral structure, or newly deployed under the auspices of martial law – were arguably operating according to a well-established modus operandi“ 22.

Diese These kommt im Prinzip den von Häusler in Kapitel C 2 e)dd)bbb) gemachten Ausführungen über den in Militärkreisen verbreiteten „Corpsgeist“ sehr nahe. Abgesehen von der Frage, ob das Nichtvorhandensein eines Plans oder Kommandos nicht Gefahr läuft, mit der notwendigen Voraussetzung einer „systematisch“ begangenen Tat in Konflikt zu geraten, muss darüber nachgedacht werden, wie die beschriebene „culture of violence“  bzw. der „Corpsgeist“ als ursächlich für bestimmte Übergriffe und zu Lasten eines konkreten Angeklagten nachgewiesen und strafrechtlich relevant werden kann. Genügt hierzu der Artikel 42 des Gesetzes Nr. 26/2000 der in Anlehnung an Artikel 28 des Statuts von Rom besagt, dass „[...] die Untätigkeit des unwissenden Vorgesetzten in den Fällen, in denen er aufgrund der zum maßgeblichen Zeitpunkt obwaltenden Umstände von den Gräueltaten hätte wissen müssen, wie die des wissenden Vorgesetzten behandelt wird“? Oder genereller gefragt: sind die vorhandenen Instrumente der internationalen Strafgerichtsbarkeit und des Schutzes der Menschenrechte ausreichend, um die Urheber verdeckter militärischer Operationen zur Verantwortung zu ziehen?

Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung dieser Problematik hätte man erwarten dürfen, dass die internationale Staatengemeinschaft alles daran setzen würde, um wenigstens die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente optimal einzusetzen. Stattdessen hat sie sich durch ihr passives Verhalten mitschuldig gemacht am kläglichen Scheitern einiger der weltweit ersten Prozesse, bei denen wesentliche im Statut von Rom formulierte Rechtsprinzipien einer Praxisprobe unterzogen wurden. Während die UN-Missionen in Osttimor von den beteiligten Staaten gerne als Erfolgsmodell dargestellt werden, zeigten und zeigen die selben Staaten wenig Interesse, auch die juristische Ahndung der 1999 begangenen Verbrechen zum Musterbeispiel zu machen. Es fehlt nicht nur an politischem Druck, sondern auch an der tatkräftigen Hilfe, diese Verbrechen aufzudecken. So verfügt die Abhörabteilung (DSD) des australischen Geheimdienstes nach Angaben des Sydney Morning Herald über Aufzeichnungen des Funk- und Nachrichtenverkehrs des indonesischen Militärs aus der Zeit der Osttimorkrise 1999 23. Es ist leider nicht bekannt, dass sich Australien darum bemüht hätte, dieses Beweismaterial in die Prozesse einzubringen. Ebenso wenig ist bekannt, dass der Staatsanwaltschaft und dem Gericht von internationaler Seite nahe gelegt worden wäre, einige der zahlreichen seinerzeit in Osttimor tätigen Mitarbeiter der UN, Wahlbeobachter oder Journalisten als Zeugen vorzuladen 24. Und die Bemühungen in Zusammenarbeit mit UNTAET/UNMISET, um Zeugen aus Osttimor zu präsentieren, gestalteten sich aus unterschiedlichen Gründen, u.a. wegen des mangelnden Zeugenschutzes, als schwierig. Auch hatten vorgeladene Zeugen die Kosten für ihre Anreise selbst zu tragen 25.

Beweisführung und Urteilsfindung bauten fast ausschließlich auf den Aussagen der im Prozess erschienenen Zeugen auf. Diese waren aufgrund der gegebenen Umstände mehrheitlich Angehörige von Polizei und Militär, die teilweise in direktem Abhängigkeitsverhältnis zu den Angeklagten standen. Ein Teil der Zeugen war in parallelen Verfahren selbst angeklagt und daher verständlicherweise darum bemüht, sich nicht selbst zu belasten. Die Liste der in den verschiedenen Verfahren vernommenen Zeugen ist in weiten Teilen identisch. ELSAM nennt zahlreiche weitere Unregelmäßigkeiten bezüglich der Ladung und Vernehmung der Zeugen 26, auf die jedoch hier nicht näher eingegangen werden kann. Die auch von anderer Seite häufig kritisierte geringe Zahl von Opferzeugen aus Osttimor dürfte nur ein Nebenaspekt sein, da von diesen Zeugen ohnehin kaum Aufklärung über die Existenz einer Befehlskette zwischen Militär und Milizen zu erwarten war.

Von großem Interesse wäre dagegen die Vernehmung eines anderen Zeugen gewesen: Olivio Moruk, der ehemalige Führer der Laksaur Miliz. Moruk war als einer der 19 im Ad-hoc-Prozess Angeklagten vorgesehen, wurde jedoch wenige Tage nachdem dies von der Generalstaatsanwaltschaft offiziell verlautbart worden war, unter bislang nicht geklärten Umständen in Atambua, Westtimor, getötet. Sein Tod war Anlass für schwere Übergriffe seitens der in Westtimor untergekommenen Milizangehörigen einen Tag später, am 6. September 2000, bei denen drei Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR getötet wurden 27. Indonesische Menschenrechtsaktivisten mutmaßen, dass Moruk von Angehörigen des Militärs umgebracht wurde, weil er Bereitschaft gezeigt hatte, über die Hintermänner des Milizenterrors auszusagen.

Ist dies nur eine weitere der vielen Verschwörungstheorien, die sich in nahezu allen politischen und weltanschaulichen Kreisen Indonesiens großer Beliebtheit erfreuen? Die Untersuchung dieses Sachverhaltes vor Gericht wäre jedenfalls geeignet gewesen, ein Zeichen gegen das in Umlauf Bringen solcher Verschwörungstheorien zu setzen.

Das Versagen der indonesischen Justiz muss auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Richter und Staatsanwälte sind sich der fast uneingeschränkten Macht des Militärs bewusst und daher empfänglich für Einschüchterungen, die oftmals in indirekter Form geäußert werden. Über die vielfältigen Druckmittel, denen die Justiz in konkreten Fällen ausgesetzt ist, kann freilich nur spekuliert werden. Dennoch sei hier beispielhaft auf zwei Ereignisse hingewiesen, die geeignet gewesen sein dürften, den Mut der Justiz zur schonungslosen Aufklärung  gebremst zu haben. Zu erwähnen sind der Fund einer schweren Bombe am 5. Juli 2000 im Dienstgebäude des Generalstaatsanwalts Marzuki Darusman, der damals für die Ermittlungen bezüglich der Osttimor-Verfahren zuständig war 28, sowie die mysteriösen Umstände des Todes seines Nachfolgers Baharuddin Lopa am 3. Juli 2002 in Saudi-Arabien 29. Beide standen im Ruf, die Ermittlungen sehr gewissenhaft voran zu treiben.

Angesichts solcher Umstände kann nicht erwartet werden, dass Indonesien aus eigener Kraft in der Lage sein wird, die Vergangenheit aufzuarbeiten und Recht walten zu lassen. Wenn der Teufelskreis der Straflosigkeit aus schwacher Justiz, auf sie einwirkender mächtiger Interessengruppen, dem Schüren von Angst und dem daraus folgenden vorauseilenden Gehorsam der Justiz nicht durchbrochen wird, werden Wahrheit und „Gerechtigkeit für die Opfer“ auf der Strecke bleiben. Zu diesen Opfern zählen weit mehr Menschen als die Opfer der Gewalt und die Hinterbliebenen des Terrors in Osttimor. Auch indonesische Richter und Staatsanwälte könnten dazu gehören. <>
 

1  United Nations, OHCHR, Report of the International Commission of Inquiry on East Timor to the Secretary General, UN Doc. A/54/726 or S/2000/59, January, 2000;
http://www.unhchr.ch/huridocda/huridoca.nsf/(Symbol)/A.54.726,+S.2000.59.En?OpenDocument
2  in Artikel 16 der Sicherheitsrats-Resolution 1272 (1999) vom 25. Oktober 1999, UN Doc. S/RES/1272 (1999), hatte der Sicherheitsrat verlangt, dass die für die Gewalt Verantwortlichen vor Gericht gebracht werden.
3  Eine Verfolgung der in Osttimor 1999 begangenen Gräueltaten durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) kommt aus anderen Gründen nicht in Betracht. Gleichwohl könnte die Errichtung eines Internationalen Ad-hoc-Menschenrechtsgerichtshofes zur Untersuchung dieser Fälle auf Art. 17 des Statuts von Rom Bezug nehmen.
4  Der Begriff “Milizen” wurde in den Anklageschriften wie auch im Prozessverlauf weitgehend vermieden. Stattdessen war von Pamswakarsa (Bürgerwehren) und ähnlichen Gruppierungen die Rede, deren Existenz in Indonesien gesetzlich abgedeckt ist. Der naheliegende Schluss, gerade daraus eine Verantwortung offizieller Stellen abzuleiten, wurde aber nur in Ansätzen vollzogen. Hierzu fand dann alternativ der Begriff „Pro-Integrationsgruppen“ (kelompok pro-integrasi) Anwendung, aus dem keine Rückschlüsse auf eine staatliche Verantwortung gezogen werden können. Einige Zeugen sagten allerdings aus, dass die Pro-Integrationsgruppen aus dem offiziellen Haushalt der Kommunen (APBD) finanziert wurden.
5  Vgl. Alex Flor: „Sand in die Augen gestreut“, in: Indonesien-Information Nr. 3/2000, S. 16
6  Chairman's Statement on East Timor, 57. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission, 20.4.2001
7  Peraturan Pemerintah (PP) No. 2/2002 (Zeugenschutzverordnung) und PP No. 3/2002 (Kompensationsverordnung)
8  Vgl. Art. 28 I (1) der indonesischen Verfassung UUD 1945
9  Vgl. Alex Flor: „Sand in die Augen gestreut“, in: Indonesien-Information Nr. 3/2000, S. 16
10  Zunächst war die zeitliche Zuständigkeit des Gerichts sogar nur auf nach dem Referendum vom 30.8.1999 begangene Taten beschränkt. Auf Druck des Auslandes hat Präsidentin Megawati den Untersuchungszeitraum dann auf den Monat April ausgedehnt.
11  Vgl. ELSAM, Progres Report V, Putusan Bebas Pengadilan HAM ad hoc Timtim: Peluang Pembelajaran Yang Gagal, Jakarta, 19.8.2002, S. 7
12  „Das gesamte Territorium Osttimors wurde als ein einziger Tatort angesehen, wodurch die Hunderte einzelner Menschenrechtsverletzungen – Tötungsdelikte, Vergewaltigungen, Zerstörungen und Vertreibungen – in ihrer Gesamtheit betrachtet werden konnten. Somit konnte der Nachweis eines weitreichenden und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung erbracht werden, dessen Teil die einzelnen Menschrechtsverletzungen waren, mit denen die Täter Druck auf die Bevölkerung ausüben wollten, damit diese aus Angst beim Referendum zugunsten einer Autonomie innerhalb des indonesischen Staatsverbandes stimmen würde.“ Zitat aus: Marco Kalbusch: „Friedenssicherung durch Recht: Die Verfolgung schwerer Straftaten in Osttimor“, in: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden (S+F) 4/2002 (im Druck), Kalbusch nimmt Bezug auf das Urteil des Bezirksgerichts von Dili vom 11. Dezember 2001: The Prosecutor v. Joni Marques & others, case No 09/ 2000, Abs. 686, Urteil.
13  Human Rights Watch: Justice Denied for East Timor, New York, 20.12.2002
14  Vgl. bspw. das Beiseiteschaffen von Leichen durch den Angeklagten Sugito, Kap. B 5 des Gutachtens.
15  Vgl. Putusan No. 02/Pid. HAM/Ad Hoc/2002/Pengadilan Negeri Jakarta Pusat, 15. August 2002, und Putusan No. Reg. Perkara : 01/HAM/TIM -TIM/02/2002, 15.8.2002
16  Vgl. Ingo Wandelt: „Familienbande – Eine kleine Einführung in die Tiefenstruktur der TNI“, in Indonesien-Information Nr. 3/2000, S. 52
17  Vgl. Anhang 1C
18 The report of the Politics and Security Team in Dili; Secret Indonesian government document; Memo Number: M.53/Tim P4-OKTT/7/1999, July 3, 1999 (Abschrift in englischer Übersetzung liegt den Verfassern vor)
19  Menyimak Kontroversi "Dokumen Garnadi" Bumihanguskan Timtim, Antara, 3.1.2000
20  Vgl. Ingo Wandelts unveröffentlichtes Redemanuskript zum Vortrag „Sprachliche Beweisführung: Möglichkeiten und Grenzen der Analyse militärischer Dokumente für die Strafverfolgung in Fällen von Menschenrechtsverletzungen am Beispiel Osttimors 1999“, gehalten am 16.1.2003 im Orientalischen Seminar der Universität Köln
21  Geoffrey Robinson, 2002, "The fruitles search for a smoking gun. Tracing the origins of violence in East Timor", in: Freek Colombijn and J. Thomas Lindblad (eds.), Roots of Violence in Indonesia, Institute of Southeast Asian Studies, Singapore, S. 254, zitiert in Wandelt, aaO.
22  Vgl. ebd., S. 273f
23  Vgl. Hamish McDonald: “Spy intercepts confirm government knew of Jakarta´s hand in massacres”, Sydney Morning Herald, 14.3.2002; vgl. auch Watch Indonesia!: „Ost-Timor: Australien hält Beweise zurück“, Presseerklärung, Berlin, 26.3.2002, http://www.watchindonesia.org/IntelAussie.htm
24  Das umfangreiche öffentlich zugängliche Film- und Tonmaterial, etwa Fernsehberichte u.dgl., darf nach indonesischem Recht nicht als Beweismaterial verwendet werden. Ein mögliches Vorgehen wäre jedoch gewesen, die Urheber solcher Aufnahmen als Zeugen zu befragen.
25  Vgl. ELSAM: Progres Report III, Monitoring Pengadilan HAM ad hoc, Jakarta, 13.6.2002, S. 8
26  Ebd.
27  Human Rights Watch: Indonesia Must Act on West Timor Killings, Press Release, 6.9.2000
28  Siehe hierzu Bericht von AP: „Indonesian Police Say Unexploded Bombs Of Military Origin“, vom 6.7.2000. Dem Fund der Bombe, die ausgereicht hätte, um Teile des Dienstgebäudes und die darin befindlichen Akten zu zerstören, ging die Explosion einer kleineren Bombe am Vortag, dem 04.07.2000, in der ersten Etage des Dienstgebäudes voraus. Der Sprengstoff stammte aus einer vom indonesischen Militär geführten Fabrik in der Stadt Bandung, ungefähr 180 km südöstlich von Jakarta.
29  Siehe hierzu Bericht der Jakarta Post, „Lopa dies of heart failure“, vom 4.7.2001. Lopa war zunächst Justiz- und Menschenrechtsminister. Davor war er bis Februar 2001  indonesischer Botschafter in Saudi-Arabien. Er war noch von Wahid mit Wirkung zum 01.06.2001 zum Generalstaatsanwalt bestellt worden. Er verstarb an einem Herzanfall in Riad. Sein unerwarteter Tod war Anlass für zahlreiche Spekulationen, über die die Jakarta Post in ihrer Ausgabe vom 5.7.2001 („No plan for autopsy on Lopa, says govt“) berichtete. In diesem Zusammenhang wurde auch sein Vorgänger Darusman zitiert, der – wie auch Lopa – davon ausging, in dieser Position grundsätzlich anschlaggefährdet zu sein. Beide ließen sich aus Angst, vergiftet werden zu können, keine Mahlzeiten in den Diensträumen servieren, sondern verzehrten nur Mitgebrachtes.
 

Das Gutachten über die Prozessbeobachtung von Rechtsanwalt Häusler wird in Kürze publiziert werden und wird bei Watch Indonesia! erhältlich sein.
 
 

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